Puppenspiele
Abendmahl, an dem Rüdiger Roth seine Jünger ein letztes Mal prüfen wollte, um dann die Besten der Besten in die Geschäftswelt hinauszusenden. Natürlich war Uwe Dietrich, ihr einziger ernst zu nehmender Konkurrent um den Posten des »Aglaia«-Vorstands, ebenfalls anwesend. Ebenso seine übermäßig geliftete Gattin, die schon während des Aperitifs im Salon versucht hatte, Rüdiger Roth mit tiefem Ausschnitt und deutlichen Avancen auf die Dietrich-Seite zu ziehen.
Clarissa würde mit ihren makellosen Umgangsformen und ihrer intellektuellen Überlegenheit punkten. Uwe Dietrich war gegen sie nur ein langweiliger Rechenschieber, der zwar mit Zahlen jonglieren konnte wie kein Zweiter, aber auf gesellschaftlichem Parkett eine schlichtweg hölzerne Figur abgab. Dabei war die Fähigkeit zur stilvollen Repräsentanz eine unabdingbare Eigenschaft für den oder die Vorsitzende.
Leider war Clarissa gerade nicht in der Verfassung zu stilvoller Repräsentanz. Der Tag hätte nicht schlechter laufen können. Zuerst der Anruf von Svensson. Nun wusste sie, wer die jungen Frauen waren, denen Niklas die Herzen herausgeschnitten hatte. Und inwiefern sie damit in Zusammenhang stand. Bislang hatte sie sich hinter der vagen Hoffnung verschanzt, dass sie nichts, rein gar nichts mit den mörderischen Machenschaften dieses Irren zu tun hatte. Weit gefehlt. Natürlich trug sie keine Schuld an den Morden, zumindest nicht im juristischen Sinne. Aber wenn Niklas gefasst werden würde, war sie erledigt. Das hatte sie von Anfang an befürchtet. Aber nun wurde immer deutlicher, wie tief sie in die Geschehnisse verstrickt war. Wenn sie sich gleich bei der Polizei gemeldet hätte, wäre ihre Karriere in Mitleidenschaft gezogen worden. Inzwischen aber gab es jede Menge Indizien, die ein halbwegs geschickter Staatsanwalt als Beihilfe zum Mord auslegen könnte. Ihr bisheriges Schweigen genügte. Und dann war da auch noch diese andere Sache … Konnte Niklas ihr tatsächlich den Tod von Beatrix Kowalski anhängen? Bislang hatte Clarissa gehofft, Thomas Howela würde sie aus dem ganzen Schlamassel befreien. Er würde sozusagen den Teppich seiner Skrupellosigkeit über diese elende Pfütze aus Mord und Erpressung ausbreiten, und sie könnte trockenen Fußes weitermarschieren auf ihrem Weg an die Spitze.
Jetzt war alles anders. Niklas war bei ihr im Büro aufgetaucht und hatte sich Rüdiger Roth vorgestellt. Die Polizei hatte Svensson unter Beschuss und seine Kundendateien im Visier. Sie kannten Niklas’ Namen. Howela war in Niklas’ Gewalt. Es war aus. Aus und vorbei. Clarissa wusste nicht, was sie tun oder denken sollte. Gab es noch eine Chance? Hatte sie noch Handlungsspielraum? Sie konnte nicht die Polizei in Luxemburg anrufen, um Howela zu retten, völlig unmöglich! Niklas würde gefasst werden und alles ausplaudern. Aber wenn sie es nicht tat, würde Niklas Howela töten. Und an ihren Händen klebte noch mehr Blut. Zum ersten Mal verspürte Clarissa so etwas wie Skrupel. Sie musste sich entscheiden, und zwar schnell. Jede Minute, die sie zögerte, brachte Howela dem Tod ein unaufhaltsames Stück näher.
Clarissa wurde von Rüdiger Roth in ihrer verzweifelten Bestandsaufnahme gestört. Er trat neben sie, fasste sie behutsam am Unterarm: »Wo bleiben Sie denn, meine Liebe? Wir vermissen Sie schon.«
»Verzeihen Sie, ein überaus wichtiges Telefonat hat mich aufgehalten …«
»Mein Gott, Sie zittern ja! Die abendliche Kälte oder schlechte Nachrichten?«
»Ein bisschen von beidem, fürchte ich. Aber wir haben Wichtigeres zu besprechen.« Clarissa lächelte Roth bemüht an. Noch war sie nicht am Ende. Aufgeben würde sie erst ganz zum Schluss. Oder kurz danach.
Clarissa straffte sich und ließ sich von dem sichtlich irritierten Roth zum Speisezimmer führen. Howela sollte sich gefälligst Mühe geben, die Situation aus eigener Kraft in den Griff zu bekommen. Er hatte es schließlich auch selbst vermasselt. Wie konnte er sich übertölpeln lassen? Er war schließlich ein Profi. Genau wie sie. Sie würde jetzt erst einmal diesen Abend hinter sich bringen. Danach konnte sie weitersehen.
Mit wiedererlangtem Selbstbewusstsein nahm Clarissa an der langen, gedeckten Tafel Platz. Sie würde diesen lächerlichen Uwe Dietrich im Angesicht der Hauptaktionäre vernichten. Keiner konnte sie aufhalten. Keiner!
4. September 2009:
München.
Christian war unzufrieden. Als er am vorigen Tag mit Zeiner, dessen Kollegen und einem Durchsuchungsbeschluss in
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