Puppenspiele
sich.
Clarissa zog vorsichtig das Päckchen zu sich heran. Mit spitzen Fingern entnahm sie den Zettel, der beigepackt war und entfaltete ihn. Es standen nur zwei Worte darauf: Innere Werte.
Dann blickte Clarissa wieder auf das zweifelhafte Geschenk, das man ihr zugedacht hatte. Perfekt vakuumiert in einer dicken, durchsichtigen Plastikfolie. Sie hatte keine Ahnung, was es bedeuten sollte. Eine Drohung? Eine perverse Liebeserklärung? Clarissa war Biochemikerin. Deswegen wusste sie genau, was da vor ihr lag. Es war ein menschliches Herz.
20. August 2009:
Berlin.
Catrin Rahnbergs Beerdigung fand an einem schwülen Spätnachmittag auf dem Friedhof Grunewald-Forst statt. Kein noch so schwaches Lüftchen regte sich. Den Vögeln war es zu heiß zum Singen auf diesem idyllischsten der Friedhöfe Berlins, der in den kommenden fünfzig Jahren an die Natur zurückgegeben werden soll. Diese Vorstellung hatte Petra Rahnberg gut gefallen, und so inszenierte sie Catrins Beerdigung als eine Hommage an das Leben in seinem ständigen Wechsel von Werden und Vergehen. In der einigermaßen kühlen Kapelle wurde »Gracias a la vida« von Joan Baez gespielt. Die Trauerrede hielt Petra Rahnberg. Sie erinnerte an Catrins mutigen und spontanen Charakter, ihren Charme und ihre Klugheit, an all ihre liebenswerten Eigenschaften. Sie erzählte Anekdoten aus Catrins Kindheit und beschwor die schönsten und innigsten Momente herauf, die sie mit ihr verbunden hatten und immer verbinden würden. Als Petra Rahnberg bemerkte, dass unter den Trauergästen die Tränen flossen, lächelte sie wehmütig: »Ihr alle habt Catrin gemocht oder gar geliebt. Deswegen wisst ihr so gut wie ich, Catrin hätte gewollt, dass wir fröhlich nach vorne blicken, auch wenn wir sie noch so schmerzlich vermissen. Lasst uns diesen schweren Tag in ihrem Sinne begehen.« Die Tränen, vor allem unter Catrins Freundinnen, flossen nach diesen Worten umso heftiger.
Der Trauermarsch setzte sich Richtung Grabstätte in Bewegung, Christian und Volker schlossen sich diskret an. Herd war schon nach Hamburg zurückgefahren und fräste sich dort mit Daniel zum x-ten Mal durch den Berg der Münchner Akten. Striebecks junger Kollege Ali hielt sich irgendwo auf dem Friedhofsgelände auf und machte aus pietätvoller Entfernung Fotos von der anwesenden Trauergemeinde und eventuellen fremden Zaungästen. Es kam gelegentlich vor, dass Mörder die Beisetzung ihrer Opfer beobachteten, um die Empfindungen, die sie bei deren gewaltsamem Ableben gefühlt hatten, noch einmal zu intensivieren. Christian wollte nicht die geringste Chance verstreichen lassen, zumal sie mit den Ermittlungen in den letzten Tagen kaum vorwärtsgekommen waren. Die Herkunft der Holzkisten hatte über keinen der üblichen Lieferanten geklärt werden können. Vielleicht waren sie vom Täter persönlich gezimmert worden. Es gab keine Fingerabdrücke noch sonstige Spuren wie Haare, Hautpartikel oder etwas anderes Verwertbares. Die Befragungen im Freundeskreis von Catrin hatten keinerlei Hinweise ergeben. Dieser Thorsten war in ihrem Leben aufgetaucht wie ein Phantom und genauso wieder abgetaucht. Keiner außer Catrin hatte ihn gesehen, noch gab es eine Beschreibung, die Petra Rahnbergs Angaben ergänzte. Wie die Mutter schon vermutet hatte, war Catrin bei ihren Freundinnen wenig mitteilsam über ihre neue Bekanntschaft gewesen. Auch über die Bedeutung der den Leichen beigelegten Nachrichten rätselten sie weiterhin.
Christian war frustriert. Er wusste, wie entscheidend die Erkenntnisse der ersten achtundvierzig Stunden für einen Erfolg waren. Nun fürchtete er, auf Dauer mit leeren Händen dazustehen, ebenso wie die Münchner, die schon seit April am Fall Mira Weiniger verzweifelten. Leider hatten auch Rahnbergs Informationen die Münchner keinen Schritt weitergebracht. Weder Sybille noch Martha Weininger wussten etwas über die männlichen Bekanntschaften Miras. Und auch in Miras Freundeskreis gab es auf die Fragen nach einem Thorsten nur ratloses Kopfschütteln als Antwort.
In den letzten Tagen hatte Christian mehrfach mit Anna telefoniert und sie zu ihrer Interpretation der geheimnisvollen Nachrichten befragt. Aber auch sie hatte mit dem ›dritten Geschlecht‹ nicht mehr anzufangen gewusst als Daniel. Außerdem schien die Botschaft, die in München beigepackt worden war, in eine ganz andere Richtung zu zielen als die Botschaft in Berlin. Nur in welche, wusste keiner. Anna hatte spekuliert, dass der Täter
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