Puppenspiele
die Stille im Büro greifbar. Herd war noch in Straßburg, Volker in Berlin, Daniel und Yvonne längst zu Hause. Pete war mit Anna in den USA. Plötzlich verstand Christian, dass es nicht die Stille war, die sich dickflüssig um ihn legte, sondern das Alleinsein. Sosehr er eben, nach dem Lärm im Großraumabteil des Zuges, die völlige Abwesenheit von Menschen ersehnt hatte, so heftig wurde ihm nun bewusst, wie sehr ihm Anna fehlte. Dennoch widerstand er dem Impuls, sie anzurufen. Zu oft hatten ihn seine gescheiterten Versuche in den letzten Tagen frustriert. Für eine erfolgreiche Ermittlung brauchte er einen klaren Verstand. Er musste mit dem ganzen Herzen bei der Sache sein und durfte nicht geistig irgendwo in Übersee herumschwirren. Die Arbeit der letzten Tage hatte seine volle Konzentration erfordert. Mit Volkers und Herds Hilfe hatte er die Ermittlungen der einzelnen Kommissariate koordiniert, für reibungslosen Informationsfluss auch nach Frankreich gesorgt, Aufgaben verteilt, mit Staatsanwälten diskutiert, telefonische Konferenzschaltungen geleitet und mit den beteiligten Beamten versucht, einzelne Puzzleteile zusammenzusetzen. Noch immer bekamen sie kein klares Bild. Christian war erschöpft. Ihm fehlte das Thema, das zentrale Motiv, das jedem Bild zugrunde lag. Zudem mangelte es an einem konkreten Ansatzpunkt für die Fahndung. Bislang glich die Suche nach dem Mörder mit den vielen Namen eher einer Geisterbeschwörung.
Christian nahm einen Schluck von seinem Bier und betrachtete die Pinnwände. Zum x-ten Mal verglich er die Opfer miteinander. Sarah Kopper aus Tübingen passte einfach nicht zu den anderen. Christian ging die Biografien durch, die vom Mörder übermittelten Sprüche, das Lied, die Städte, die angemieteten Wohnungen, die Entfernungen der Mietwohnungen zu den Wohnorten der Opfer, die sozialen Kontakte der Opfer, die familiären Bindungen …
Da war ein dumpfes Gefühl, das wie eine Blase langsam auftauchte aus dem Sumpf von Ungereimtheiten: die Mütter. Er musste sich um die Mütter kümmern. Christian wusste nicht, was genau da zu ihm sprach. Jahrzehntelange Erfahrung? Die Intuition des Jägers? Oder bastelte er sich einfach nur ein obskures Argument zurecht, um sich intensiver um die eine Mutter, um Petra Rahnberg, zu »kümmern«? Weil er sich von Anna im Stich gelassen fühlte? Weil das alte Muster griff, sich mit unverbindlichem Sex von Gefühlen abzulenken, die ihn überforderten? Christian schüttelte den Kopf. Anna hatte ihn in den letzten Jahren anscheinend mehr beeinflusst, als ihm bislang aufgefallen war. Jetzt begann er schon, sich selbst zu analysieren! Wie bescheuert war das denn?
Er konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Diese Blase, die immer wieder hochploppte, kam nicht von ungefähr, auch wenn es auf den ersten Blick so schien. Christian hatte in seinen langen Dienstjahren noch nie eine Ermittlung geführt, in dem die Mütter so speziell und präsent waren.
Petra Rahnberg: Professorin für Literatur. Gebildet. Gut situiert. Alleinerziehend. Unabhängig von Männern.
Sybille Weininger: Studierte Informatikerin und Geschäftsführerin des familieneigenen Unternehmens. Außerordentlich gut situiert. Alleinerziehend. Unabhängig von Männern. Dann noch die Großmutter: Martha Weininger. Reich. Männerhassende Suffragette.
Die Mutter in Straßburg: Josephine Lacour. Besitzerin einer großen Werbeagentur. Reich. Selbstbewusst. Gebildet. Verheiratet zwar, aber bei der Vernehmung hatte sich unweigerlich das Gefühl aufgedrängt, ihr Mann hätte nicht viel zu sagen. Er war stumme Staffage.
Nur die Mutter von Sarah Kopper passte nicht ins Bild: eine einfache Hausfrau, die ihren Mann als Familienoberhaupt ansah und ihn und die Kinder liebevoll umsorgte. Sie passte so wenig wie Sarah.
Christian fragte sich, wieso Sarah Kopper der Anfang einer Reihe sein könnte, in die sie nicht passte. Und wieso die Reihe dann fortgesetzt wurde mit intelligenten, jungen Frauen, die allesamt aus familiären Verhältnissen stammten, die von auffallend autarken Frauen regiert wurden. Zudem war Christian überzeugt, dass jedes vom Mörder gewählte Detail Teil einer Botschaft war, die er zu vermitteln suchte. Mit den Nachrichten auf den Zetteln wollte er sich erklären. Dazu die falschen Namen und Biografien. Sie hatten irgendetwas mit seiner echten Identität zu tun. Der Mensch funktioniert einfach so. Seine Lügen und Verschleierungen sind unbewusst assoziativ. Davon konnte man auch bei
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