Puppenspiele
normalen und damit für sie nachvollziehbaren, sondern in krankhaften Bahnen verlief. Also versuchte Petra, sich zu entspannen und das strukturierte Instrumentarium ihres Gehirns auszuschalten, um sich einen eher intuitiven Zugang zu ermöglichen. Sie blätterte absichtslos durch Bildbände mit Gemälden von Max Ernst, Goya und Picasso. Sie hörte klassische Musik und zwar nicht den von ihr so geliebten präzisen Bach, sondern ergab sich den fantastischen Klangwelten von Berlioz.
Dabei kam ihr eine Idee. Schließlich hatte dieser Daniel von der Soko Bund an Christian gemailt, dass die Botschaft in Straßburg Teil eines Liedes wäre. Petra fuhr ihren Computer hoch und ging auf Youtube. Schon vor Jahren hatte Catrin sie mit den unterhaltsamen Segnungen dieser Internetadresse bekannt gemacht. Seitdem surfte Petra gelegentlich dort herum und besah sich Video-Clips von Künstlern, die sie gerne mal in einem Konzert bewundert hätte, die aber entweder tot waren wie Artur Rubinstein oder kaum tourten wie Tom Waits. Sie gab in der Suchleiste »Das Lied vom einsamen Mädchen« ein und war sehr gespannt, ob in der Playlist die Interpretation des »Depeche Mode«-Sängers Martin Gore auftauchen würde. Zu ihrer großen Überraschung wurden noch einige andere Interpreten angeboten, die dieses Lied vertont hatten. Petra startete die Playlist und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Die erste Version war von einem Alexander Veljanov. Petra mochte die Stimme des Sängers, aber die Instrumentierung des Songs fand sie uninspiriert. Dennoch schloss sie die Augen und hörte zu. Was blieb von ihrem Leben? Ein Lied, das niemand sang …
Petra dachte an ihre tote Tochter. Sofort sammelten sich Tränen hinter ihren geschlossenen Augen. Sie riss sich zusammen und schaute die Playlist mit den verschiedenen Interpreten durch. Schließlich entdeckte sie, dass auch Hildegard Knef das Lied gesungen hatte. Endlich eine Sängerin, die Petra vertraut war. Petra musste lächeln, als sie den Eintrag eines »Users« las, der die Interpretation der Knef für uninspiriert hielt und lieber Martin Gore oder Nico hören wollte. Petra war absolut anderer Meinung und freute sich, als sie weiter unten las, dass jemand ihr zustimmte und Knefs Originalversion bevorzugte. Ganz plötzlich verspürte Petra eine leichte Nervosität aufkeimen. Originalversion. Sie folgte ihrem Impuls und gab bei ihrer Suchmaschine Hildegard Knef und den Titel des Liedes ein.
Petra las die zur Verfügung stehenden Informationen, geriet von einer zur anderen, klickte neue Seiten an und las weiter. Sie begann zu zittern. Obwohl es eine laue Spätsommernacht war, fröstelte sie plötzlich. Der Zettel mit dem Lied hatte bei der Französin gelegen. Doch was Petra gerade entdeckt hatte, passte auf Catrin. Konnte das sein? Hatte Catrin deswegen sterben müssen? Es erschien ihr ungeheuerlich. Hatte sie die Gemeinsamkeit zwischen den Opfern entdeckt? Petra sah plötzlich auch die Botschaft, die bei Catrin gelegen hatte, in neuem Licht. Nun machte sie Sinn. Einen völlig kranken Sinn zwar, aber einen Sinn.
Petra sprang auf und lief hektisch hin und her, obwohl ihre Beine genauso zitterten wie die Hände. Was sollte sie tun? Christian anrufen? Sie sah auf die Uhr. Es war mitten in der Nacht. Außerdem konnte sie nicht sicher sein. Es war unglaublich. Einfach absurd! Sie würde bis morgen warten müssen … Sie würde mit den anderen Müttern reden müssen … Gleich morgen früh würde sie jede Einzelne anrufen … Nein. Anrufen war keine gute Idee … Petra ging ins Bad und nahm ein Röhrchen mit Schlaftabletten aus dem Badezimmerschrank. Sie musste irgendwie schlafen. Ein paar Stunden wenigstens. Morgen würde ein langer Tag werden. Sie würde ihn wieder in der Bahn verbringen.
1. September 2009:
Hamburg.
Christian erwachte benommen und sah auf die Uhr. Es war schon Mittag. Die Sonne schien durch die Vorhänge, doch er fühlte sich immer noch müde. Gerade überlegte er, ob er einfach weiterschlafen sollte, als er unten im Haus ein Poltern hörte. Irritiert lauschte er und begriff, dass er nicht von allein aufgewacht war, sondern durch Geräusche, die nicht sein sollten. Es war jemand im Haus. Leise schob Christian die Bettdecke beiseite, stand auf, schlüpfte in seine Unterhose und nahm aus dem Schulterhalfter auf dem Nachttisch seine Dienstpistole. Barfuß schlich er die Treppe hinunter. Er schob sich an der Wand entlang und lugte vorsichtig ins Wohnzimmer hinein. Niemand. Der
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