Puppenspiele
dem Mörder ausgehen. Irgendwo in den verwinkelten Gassen seines Gehirns gab es Zusammenhänge zwischen seinem erfundenen und seinem wahren Ich.
Christian nahm sich einen Bogen Papier und notierte in Listenform, was an den Pinnwänden nach Städten sortiert war:
Tübingen: Frank. Akademischer Lebenslauf. Dozent für Philosophie. Keine Mietwohnung nachweisbar, keine Nachricht, kein Nachname.
München: Frank Niklas Stein. Akademischer Lebenslauf. Politologe. Möblierte Mietwohnung. Verstopft euch die Ohren, damit ihr den Schrei nicht hört!
Berlin: Thorsten Brinken. Dozent für Geowissenschaften. Möblierte Mietwohnung mit fehlendem Stuhl. Menschen! das dritte Geschlecht ist in der Welt.
Straßburg: Frédéric Rouge-Joue. Noch kein Lebenslauf. Aber möblierte Mietwohnung. Weil sie einsam war, Und so blond ihr Haar, Ihr Herz tot wie Stein, Und er rief aus: ›Komm her, sollst nie mehr einsam sein! ‹
Gab sich der Kerl als Akademiker aus, weil die Frauen darauf standen? War er einer? Oder wollte er gerne einer sein?
Christian starrte auf seine Notizen. Er starrte und starrte, als gäbe es unsichtbare Linien zwischen den Informationen, die sich entwickeln würden wie ein Polaroid, wenn er nur genügend Geduld besaß. Er fühlte, nein, er wusste genau: Da lag etwas Offensichtliches vor ihm. Aber er konnte nichts erkennen, obwohl es zum Greifen nah war. Dieses Etwas blieb verschwommen. Als Christians Augen zu brennen anfingen und sein Kopf schmerzte, sah er auf die Uhr. Es wurde Zeit, dass er nach Hause ging. Er brauchte dringend Schlaf.
Berlin.
Petra Rahnberg war ebenfalls noch wach. Sie war am späten Nachmittag aus Straßburg nach Hause gekommen. Auf ihrem Anrufbeantworter waren fünf erboste Nachrichten von Jochen Kratz gewesen. Er echauffierte sich darüber, dass weder sie noch Christian Beyer seine Anrufe beantworteten, noch dass Striebeck ihm verriet, wo sie steckten. Seine journalistische Spürnase sage ihm, dass etwas Bedeutendes im Busch sei. Ob man ihn aus der vereinbarten Exklusivberichterstattung ausbooten wolle, wo er es doch gewesen sei, der die erste Spur zur möblierten Mietwohnung des Mörders aufgetan hätte? Petra hatte ihre Mailbox erschöpft gelöscht und ein Bad genommen. Sie war völlig verspannt gewesen von den beiden unbequemen Zugfahrten. Und von dem Anblick der ermordeten Französin. Das Bild der an Seilen aufgespannten jungen Frau ohne Herz hatte sich unauslöschlich in ihre Netzhaut eingebrannt.
Nun saß Petra in ihrem viel zu großen Frottébademantel bei einem Tee am Schreibtisch und ging alles, was sie bislang über die Ermordung ihrer Tochter Catrin und die der anderen Frauen in Erfahrung gebracht hatte, noch einmal durch. Nur kurz überlegte sie, warum sie die Sache nicht einfach den Profis überließ. Schließlich besaß Kommissar Christian Beyer als Mordermittler einen hervorragenden Ruf. Sie hatte in den letzten Tagen gelernt, ihm rückhaltlos zu vertrauen. Mehr noch, sie mochte ihn und fühlte sich zu ihm hingezogen. Doch sie war nicht die Frau, die sich einfach zurücklehnen und das Denken anderen überlassen konnte. Vielleicht fürchtete sie, dass die Trauer wie eine riesige Welle über ihr zusammenschlagen und sie verschlingen würde, wenn sie auch nur eine Sekunde lang aufhörte zu rudern. Sie musste etwas tun, musste sich beschäftigen. Aber Ablenkung von den Geschehnissen, indem sie ins Kino ging oder sich von Freunden bekochen ließ, die erwarteten, dass sie sich bei ihnen ausweinte, war keine Alternative. Also saß sie, genau wie Christian, vor den Notizen, die sie sich gemacht hatte und versuchte, einen Sinn darin zu erkennen. Noch einmal beschäftigte sie sich eingehend mit der Spiegel-Metapher. Wieder und wieder las sie die bei den Leichen hinterlassenen Nachrichten durch. Und genau wie Christian hatte auch sie das quälend undeutliche Gefühl, dass da direkt vor ihren Augen etwas war, was sie nicht sah.
Als Literaturwissenschaftlerin schätzte sie den analytischen Weg. Doch sie wusste, dass dem Verstand nicht alle Ebenen zwischenmenschlicher Botschaften zugänglich sind. Kunst etwa vermittelt sich zunächst auf sinnlichem Weg. Erst dann setzt man Instrumente der Analyse ein, mit denen man versucht, die eigene Perspektive auf das Werk mit der vermuteten des Künstlers in Zusammenhang zu setzen. Möglicherweise konnte sie auch das blutige Werk des Mörders nicht mit dem Verstand »lesen«. Zumal man davon ausgehen musste, dass das Denken des Killers nicht in
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