Puppenspiele
beleuchtete Straße. »Und wenn es euer Mann ist? Was dann?«
»Keine Ahnung. Er hat bisher noch kein Kind getötet. Zumindest wissen wir nichts davon. Sein Opfer sind Frauen zwischen zwanzig und dreißig.«
»Wird er ihr das Herz herausschneiden?«
Christian gab keine Antwort.
Anna kam in die Küche und nahm sich einen Kaffee. »Jessica schläft jetzt. Sie ist völlig erledigt. Gibt sich die Schuld. Es war schwierig, sie zu beruhigen. Der Mutter geht es ähnlich. Ich habe im Badezimmerschrank Beruhigungspillen gefunden und sie überredet, zwei davon zu nehmen. Sie spricht die ganze Zeit davon, dass sie nie wieder in ihrem Leben ins Kino gehen wird. Dass sie das auf gar keinen Fall hätte tun dürfen. Dass sie eine schlechte Mutter ist.«
Christian schüttelte verständnislos den Kopf: »Woran liegt das nur, dass sich die Angehörigen in solchen Fällen immer selbst die Schuld geben? Macht das irgendetwas einfacher?«
»Für viele ist es immer noch besser, als akzeptieren zu müssen, dass man nichts tun kann, nichts verhindern kann. Die Erfahrung der Ohnmacht ist das Schlimmste. Man versucht, eine logische Abfolge und damit Ordnung in das Chaos zu bringen. Hätte ich bloß … Wäre ich nicht … Man hangelt sich an den üblichen Geländern der Gesellschaft entlang aus Angst vor dem freien Fall.«
»Danke, dass Sie sich kümmern«, sagte Weyrich. »Der einzige Polizeipsychologe in unserer Umgebung ist gerade in Hamm und versucht, einen Selbstmörder vom Dach des Rathauses zu quatschen.«
Anna nickte: »Ich werde mal rausgehen und mit Herrn Jacob reden. Wenn der noch eine Kippe raucht, bekommt er einen spontanen Herzinfarkt.«
Weyrich und Christian beobachteten durchs Fenster, wie Anna zu Jacob ging und sanft auf ihn einsprach.
»Gute Frau«, sagte Weyrich.
Christian nickte lächelnd. Er sah auf die Uhr. Es war schon spät, und sie kamen keinen Millimeter vorwärts: »Wie lange werden deine Leute noch mit der Überprüfung von Hotels, Pensionen, möblierten Zimmern und Ferienhäusern brauchen?« Schon bei seinem ersten Telefonat mit Weyrich, als er noch auf der Autobahnauffahrt in Hamburg gewesen war, hatte er seinen Kollegen über die übliche Vorgehensweise des »Herzensbrechers« informiert.
»Lange. Wir befinden uns hier im Naturpark Hohe Mark. Sehr touristisch.«
»Aber eher für Familien. Ein einzelner junger Mann wird auffallen, oder?«
»Ein angeblich alleinerziehender Vater mit einer Zehnjährigen nicht. Aber hoffen wir das Beste.«
Christian war unruhig. Das dauerte ihm alles viel zu lange. Er ging in den verwaisten Hausflur und rief Daniel an, der wie immer die Ermittlungen beschleunigen sollte, indem er in Hamburg an seinem Computer saß. Zurzeit drang er illegal in die Server von hier ansässigen Hotels ein, um deren Buchungen zu checken. Das ging weitaus schneller als mühsames Telefonieren mit wenig hilfsbereiten Angestellten, von denen sich einige aus Faulheit weigerten zu begreifen, wie dringlich die Angelegenheit war. Doch auch Daniel war noch nicht fündig geworden. Das Problem im Naturpark Hohe Mark war, dass es sehr viele familiär geführte Pensionen und Privatunterkünfte gab, die ihre Buchhaltung ganz traditionell mit Stift und Papier machten.
Christian ging zurück zur Küche, wo Weyrich mit gebeugtem Rücken und grauem Gesicht an seinem längst kalten Kaffee schlürfte. Christian wusste, wie Weyrich sich fühlte. Weyrich war der Mann vor Ort, einer der ihren. Sicher kannte er viele Bewohner von Haltern am See persönlich. Vielleicht kannte er auch die kleine Jenny. Möglicherweise ging sie mit seinem Sohn oder seiner Tochter zur Schule. Und Weyrich stand auch unter dem Druck, dass aller Augen auf ihn gerichtet waren. Seine Familie, seine Nachbarn, der Bäcker, der Zeitungsträger, der Metzger … Sie alle erwarteten ebenso ein Wunder von ihm wie die Familie Jacob. Anna hatte recht. Die Ohnmacht war das Schlimmste. Es passierte. Einfach so, wie ein Fingerschnippen. Und während die Menschen um ihn herum versuchten zu begreifen, was eigentlich passierte, fragte sich Christian, was das »Es« war, das immer wieder unter seinen hilflosen Händen und Augen geschah. Deswegen verstand Christian, warum Weyrich nicht nach Hause gehen mochte, obwohl es im Moment nichts mehr für ihn zu tun gab. Er wollte einfach die Stellung halten. Gegen wen oder was auch immer …
Eine halbe Stunde später hatte Anna Herrn Jacob überredet, ins Haus zu kommen und sich um seine Frau zu kümmern. Die
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