Puppenspiele
Straßensperren. Falls der Entführer versuchen sollte, das Gebiet mit dem Auto zu verlassen, würden sie ihn schnappen. Weyrich war zuversichtlich. Christian wusste es besser. Straßensperren zu umgehen oder gar zu umfahren war nicht schwierig. Dass immer wieder Zielpersonen durch Straßensperren gefasst wurden, lag an der relativen Blödheit der meisten Kriminellen. Der Mann, den sie suchten, war jedoch alles andere als blöd. Er handelte überlegt und souverän mit einem gewissen Hang zum Risiko. Wie schlicht und effektiv er den Taxifahrer manipuliert hatte, ihm einen kleinen Vorsprung zu gewähren – wäre dieser Kerl nicht ein krankhafter Killer, hätte Christian fast Respekt vor ihm empfunden. Es überraschte ihn wenig, dass das Handy, mit dem der Entführer die Taxizentrale angerufen hatte, nicht zu orten war.
Christian ging ins Wohnzimmer, wo die inzwischen umgezogene Jenny, umringt von ihrer glücklichen Familie auf dem Sofa saß. Auch die Mutter hatte sich beruhigt. Anna passte Christian an der Wohnzimmertür ab und sagte ihm, dass Jenny überraschend entspannt sei. Bisher zeigte sie keinerlei Anzeichen von posttraumatischem Stress. Christian bat Anna, nun das wichtige Erstgespräch mit Jenny zu führen. Er würde sich nur einschalten, wenn er aus polizeilichen Belangen Ergänzungen brauchte. Weyrich hatte von Herrn Jacob auf die Schnelle dessen Camcorder ausgeliehen, um das Gespräch zu dokumentieren. Eine solche Videoaufzeichnung konnte äußerst nützlich sein, wenn es zu einem Strafverfahren kam und der Anwalt des Angeklagten ein Glaubwürdigkeitsgutachten über die erst zehnjährige Zeugin einforderte. Nur deswegen ließ Anna den Camcorder zu. Grundsätzlich mochte sie keine Kameras bei Gesprächen. Vor allem Kinder ließen sich viel zu leicht davon ablenken oder fühlten sich gar unter Leistungsdruck gesetzt. Anna hatte mit Jennys Eltern abgesprochen, das Gespräch ohne sie zu führen. Familienmitglieder waren mindestens ebenso kontraproduktiv wie Kameras, denn sie erhöhten das Schamgefühl bei heiklen Themen. Am liebsten wäre sie ganz allein mit Jenny gewesen. Doch sie wusste, dass Christian sich nicht würde abschütteln lassen.
Also stellte sie Jenny Christian vor. Jenny gab ihm artig die Hand. Zu dritt gingen sie nach oben in Jennys Zimmer. In ihrem eigenen kleinen Reich würde sie sich am wohlsten fühlen. Anna ließ sich Zeit, eine Vertrauensbasis zu Jenny aufzubauen. Sie besah sich die Tierzeichnungen, die Jenny angefertigt und an ihre Wand gepinnt hatte und stellte über einige Fragen dazu Kontakt zu Jenny her. Christian installierte die Kamera möglichst unaufdringlich auf dem Kinderschreibtisch. Dann setzte er sich zu Jenny und Anna, die inzwischen auf dem Fußboden Platz genommen hatten.
Jenny sah ihn interessiert an: »Suchen Sie jetzt Mike?«
»Er heißt also Mike?«, fragte Christian.
Jenny nickte. »Stuntman Mike. Jess hat ihn so genannt, als wir ihn am See gesehen haben. Ein Mann in einem Film heißt so, hat Jessica gesagt. Das hab ich ihm erzählt. Er fand das sehr lustig.«
»Hat er dir denn verraten, wie er richtig heißt?«, fragte Christian weiter. Anna ließ ihn vorerst gewähren. Sie wusste, er brauchte Fakten. So schnell wie möglich. Wenn sie jedoch den Eindruck bekam, dass er das Kind überforderte, würde sie sofort eingreifen.
»Er hat gesagt, er heißt Peter Pan. Aber das war geschwindelt.« Jenny lachte vergnügt.
»Weißt du, wo er hinwollte? Hat er irgendetwas erzählt? Wo er herkommt, was er vorhat …?«
Anna warf Christian einen warnenden Blick zu. Zu viele Fragen auf einmal. So ging das nicht.
»Sie meinen so Sachen, damit Sie ihn finden können?«
Christian lächelte Jenny an: »Genau. Du bist ein ganz schön schlaues Kind, Jenny.«
»Das hat Mike auch gemerkt. Deswegen hat er mir auch nichts gesagt. Weil er ja weiß, dass die Polizei ihn jetzt bestimmt sucht. Weil er mich doch entführt hat!«
Jetzt wurde es heikel. Anna übernahm die Gesprächsführung: »Erzählst du uns bitte mal ganz genau, wie das gekommen ist, dass Mike dich mitgenommen hat?«
Jenny nickte wichtig. Sie genoss die Aufmerksamkeit, die die Erwachsenen ihr schenkten. »Ich war allein zu Hause und hab in meinem Buch gelesen. Über Dinosaurier und warum sie ausgestorben sind. Dann hat jemand Steinchen ans Küchenfenster geworfen. Da hab ich dann rausgeguckt. Und da stand Mike draußen und hat gesagt, dass sein Kätzchen in unserem Vorgarten verschwunden ist und ob ich ihm suchen
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