Puppenspiele
Zielperson einen Schritt voraus war. Der Mörder agierte, der Polizist reagierte. Stocherte suchend im Nebel. Hinkte den Ereignissen hinterher. Das lag in der Natur der Dinge, und dennoch konnte Christian sich immer weniger damit abfinden. Wenn nun nicht nur der gesuchte Mörder, sondern auch noch ein ominöser Herr Rodenberg wiewohl Zeugen und Journalisten einen oder mehrere Schritte vorauseilten, dann war das für ihn eine neue Dimension des Hinterherhinkens und schier unerträglich. Zu gern hätte er Petra, Sybille und Kratz mit voller Lautstärke angeschrien und gefragt, für wen, zum Teufel, sie sich eigentlich hielten. Oder ihn! Doch er beherrschte sich. Mühsam. Zuerst zeigte er eine Kopie von Schmitts Passfoto herum. Keiner der Anwesenden hatte ihn je gesehen. »Okay, dann jetzt mal raus mit der Sprache! Ich will wissen, was los ist«, sagte Christian gereizt.
Petra ergriff das Wort: »Nachdem ich aus Straßburg zurück war, habe ich mich mit dem ›Lied vom einsamen Mädchen‹ beschäftigt. Dabei kam mir ein Verdacht, der mir aber so absurd erschien, dass ich zuerst einen Beleg dafür haben wollte, bevor ich mich bei der Polizei lächerlich machte. Also sind wir nach Reutlingen gefahren.«
Christian bemühte sich zuzuhören, ohne zu unterbrechen.
Petra erzählte von ihrem ergebnislosen Besuch bei den Koppers, von ihrem Zusammentreffen mit Sybille Weininger und von der gemeinsamen Fahrt nach Straßburg, wo der von Sybille bestätigte Verdacht endlich zur Gewissheit wurde: Abgesehen von Sarah Kopper waren alle drei bisherigen Opfer durch künstliche Befruchtung erzeugt worden.
»Alle vier«, ergänzte Christian und erzählte von Jenny Jacob aus Haltern am See.
»Eine Zehnjährige?«, rief Petra entsetzt aus.
Christian beruhigte sie: »Es ist ihr nichts geschehen. Er hat sie unversehrt wieder freigelassen.«
Ein kurzes Schweigen legte sich über die Versammlung. Anna war sicher, dass alle Anwesenden dankbar waren, nicht auch noch den grausamen Tod eines Kindes beklagen zu müssen. Sybille Weininger und Petra Rahnberg würden sich insgeheim aber auch voller schuldbewusster Bitterkeit fragen, warum ihnen das Glück, die Tochter heil zurückzubekommen, nicht beschieden gewesen war.
Christian sah Petra und Sybille vorwurfsvoll an: »Warum haben Sie mir von der künstlichen Befruchtung nicht gleich bei unseren ersten Gesprächen erzählt?«
»Ich habe dafür keinerlei Veranlassung gesehen.« Zum ersten Mal meldete sich Sybille zu Wort. »Für mich und sicher auch für Petra und Madame Lacour waren die Umstände der Zeugung unserer Töchter nicht im Entferntesten ein möglicher Anlass für ihre Ermordungen.«
Petra stimmte zu: »Es handelt sich dabei um eine sehr persönliche Angelegenheit. Außerdem ist künstliche Befruchtung heutzutage weit verbreitet und damit meiner Meinung nach nicht im Mindesten erwähnenswert.«
Anna mischte sich ein: »Anders als in den Achtzigern. Da steckte die Praxis der In-vitro-Fertilisation gewissermaßen noch in den Kinderschuhen.«
»Stimmt. Das erste Baby, das durch künstliche Befruchtung gezeugt worden war, kam 1978 in Großbritannien zur Welt. Die gesellschaftliche Akzeptanz für diese Methode war gering. Es folgten jahrelange, öffentlich geführte Ethik-Diskussionen, die 1991 im Embryonenschutzgesetz mündeten.«
»War es in den Siebzigern und Achtzigern strafbar?«, hakte Christian nach.
»Nein. Eher ein rechtsfreier Raum. Aber es gab deutlich rigide Empfehlungen an die Ärzteschaft, wenn überhaupt, nur homologe Befruchtungen vorzunehmen, also Samenspenden nur vom Partner der Frau zu gestatten. Und zwar bitte schön vom Ehepartner. Das legte schon Artikel 6 des Grundgesetzes nahe: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Heterologe Spenden, als Samen von einem unbekannten Dritten, wurden von den Ärzten nicht akzeptiert – von den meisten Ärzten nicht.«
»Aber Sie haben solche Ärzte gefunden.«
»Eine Frage der Recherche und der finanziellen Mittel.«
»Darf ich kurz dazwischenfragen?«, mischte sich Anna ein. »Ich würde gerne ein paar Schritte zurückgehen. Wie sind Sie darauf gekommen, dass die Morde mit den künstlichen Befruchtungen zusammenhängen? Sie erwähnten das ›Lied vom einsamen Mädchen‹. Ich habe den Text gelesen, sah aber absolut keinen Hinweis.«
»Der Hinweis lag nicht im Text selbst. Ich musste eine Ecke weiter recherchieren. Hildegard Knef hatte das Lied gesungen. In einem Film namens
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