Puppentod
rief Frau Elbert und sagte zu Michael: »Meine Lucia hatte keine Kinder.«
»Ach so«, erwiderte er, und ihm wurde schlagartig klar, dass er hier falsch war.
»Soll ich Kaffee bringen? Oder Tee?«, fragte indes Schwester Katrin.
»Stellen Sie sich vor, der junge Mann hat mich verwechselt«, lachte Frau Elbert und wandte sich wieder an Michael: »Ich würde mich trotzdem freuen, wenn Sie zum Tee bleiben.«
Sofort winkte er ab. »Nein, nein, unter diesen Umständen möchte ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«
»Zeit habe ich genug«, gab Frau Elbert zurück. »Doch ich verstehe Ihre Eile. Junge Menschen haben es immer eilig, und das ist auch gut so.« Sie stand auf und gab ihm
zum Abschied ihre mit Goldringen besetzte Hand. Danach bat sie die junge Schwester, ihn wieder nach unten zu begleiten.
Enttäuscht und grübelnd lief er neben ihr in Richtung Fahrstuhl. Was sollte er nun tun? Er hatte schon so viele Heime erfolglos angerufen, dass er die Chance, die richtige Frau Elbert zu finden, inzwischen als sehr gering einstufte. Vielleicht lebt sie ja auch gar nicht mehr, dachte er. Aber das musste doch irgendwie herauszufinden sein. Nur wie? Wo konnte man so etwas erfragen? Während er sich darüber das Hirn zermarterte, begann Schwester Katrin aus ihrem Leben zu plaudern.
»Ich arbeite noch nicht sehr lange hier, seit vier Monaten erst«, erzählte sie. »Aber es ist eine schöne Arbeit. Es macht mir sehr viel Spaß.«
»Das freut mich«, erwiderte Michael höflich.
»Und die Arbeit ist überhaupt nicht schwer. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich eine Hausdame in einem schönen Hotel. Dann serviere ich Tee und Gebäck oder bringe frische Blumen. Schön, nicht wahr? Dort, wo ich vorher gearbeitet habe, war so etwas undenkbar. Das war wirklich eine sehr schwere Arbeit, das dürfen Sie mir glauben.«
»Aha«, sagte er uninteressiert. Er hatte im Augenblick andere Sorgen. Aber das schien die junge Dame nicht zu bemerken, denn sie redete munter weiter, während sie auf den Fahrstuhl warteten.
»Dort in Kampberg, im Pflegeheim St. Theresa, gab es eine alte Dame, die ziemlich verwirrt war, aber hin und
wieder auch ganz klar im Kopf. Sie hieß Johanna Elbert und hat ständig von ihrer Enkelin Lisa erzählt.«
Der Fahrstuhl kam. Sie stiegen ein, und Schwester Katrin fuhr fort: »Aber die Enkelin ist verschwunden, ich glaube sogar vor vielen Jahren, und an meinem letzten Arbeitstag bekam Frau Elbert die Nachricht, dass ihre einzige Tochter an Krebs verstorben ist.«
Jetzt sah Michael die junge Schwester mit großen Augen an. »Wo, sagten Sie, war das?«
»In Kampberg«, erwiderte sie. »Im Pflegeheim St. Theresa. Fragen Sie nach Johanna Elbert. Und sagen Sie ihr liebe Grüße von mir.«
Das Pflegeheim St. Theresa hatte mit der Starnberger Seniorenresidenz nichts gemeinsam. Es war ein altes Haus am Ortsrand, das dringend einen neuen Anstrich brauchte und statt eines Parks nur ein mickriges Blumenbeet vor dem Eingang aufweisen konnte. Auch gab es hier keine Rezeption zum Anmelden, sondern lediglich einen muffigen Empfangsbereich, in dem ein runder Holztisch mit vier Stühlen stand. Da Michael dort niemanden fand, den er ansprechen konnte, öffnete er die einzige Tür, die es außer der Eingangstür gab, und landete in einem Durchgangsraum. Links war der Speisesaal, und rechts saßen mehrere alte Leute in einer Reihe nebeneinander und blickten ihn neugierig an.
»Ich suche eine Frau Elbert«, sagte er. Niemand reagierte. Deshalb probierte er es noch einmal, allerdings ein bisschen lauter: »Ich suche Johanna Elbert.«
»Schreien Sie doch nicht so«, beschwerte sich eine der alten Frauen. Und der einzige Mann unter ihnen zeigte mit seinem Stock auf den vor Michael liegenden Gang und knurrte: »Das zweite Zimmer rechts.«
Michael bedankte sich höflich, ging zu dem Zimmer mit der Aufschrift Johanna Elbert und klopfte an die Tür. Es passierte nichts. Also klopfte er ein zweites Mal, und weil es auch daraufhin keine Reaktion gab, drückte er kurzerhand die Klinke nach unten. Die Tür war offen. Er sah in das Zimmer hinein. Es war klein und sehr eng. Rechts stand ein Bett, dahinter ein Kleiderschrank, gegenüber ein Fernseher und davor ein winziger, runder Tisch. Am Fenster, in einem Lehnstuhl, saß eine schmächtige, alte Frau mit dünnem, weißem Haar.
»Frau Elbert?«, fragte er.
Sie drehte ihm den Kopf zu, sagte aber nichts.
»Frau Johanna Elbert?«, fragte er noch einmal.
Sie antwortete
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