Puppentod
entstand vier Jahre später, und das dritte meiner Bilder, Junge am Meeresstrand , malte er 1903.«
Dieses betrachtete Lisa gerade. »Es ist sehr hübsch«, sagte sie. »Ich mag die Bilder der rosa Periode sowieso alle sehr gern.«
»Der blauen«, verbesserte Rudolf sie.
»Natürlich!« Sie wirkte verlegen.
Da betrat Hilde das Büro.
»Also wirklich, Rudolf. Nun reicht es«, rief sie erbost. »Frau Beckstein hat schon die Suppe aufgetragen. Es wird ja alles ganz kalt. Vorhin hattest du noch so einen Hunger.«
»Ja, ja. Wir kommen«, unterbrach er sie schroff. Dann bot er Lisa erneut seinen Arm und nickte Michael anerkennend zu, als er mit ihr an ihm vorbeiging.
Michael stand verdutzt im Türrahmen, konnte kaum glauben, was er eben gesehen und gehört hatte. Lisa war eine Picassokennerin, und sein Vater war, nach kaum einer Stunde, völlig fasziniert von ihr - wer hätte das gedacht? Es geschahen tatsächlich noch Zeichen und Wunder.
9
Lisa verschloss die Tür ihres Appartements, zog die Stiefel aus, setzte sich kerzengerade auf den Bettrand und atmete tief durch. Sie hatte heute Abend eine große Hürde genommen und war zufrieden mit sich. Bis auf den Zwischenfall in Rudolf Westphals Büro. Wie konnte ihr so ein dummer Fehler unterlaufen!
Sie zog ein dickes Buch unter dem Bett hervor, schlug es auf und ließ die einzelnen Seiten über ihren Daumen gleiten.
Stopp! Da stand es. Schwarz auf weiß und mit Textmarker angestrichen: Picasso hatte seine blaue Periode von 1901 bis 1905, und erst danach begann die rosa Periode.
Wozu hatte sie dieses verdammte Buch auswendig gelernt, wenn sie im entscheidenden Moment die einfachsten Dinge durcheinanderwarf? Wütend knallte sie es wieder zu. Es stand so viel auf dem Spiel. So etwas durfte ihr nie wieder passieren. Wie hatte Yoshitoki zu ihr gesagt: Jeder kleine Fehler kann das Leben kosten.
Sie legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Sie war so schrecklich müde und wünschte sich so sehr, endlich wieder einmal durchzuschlafen. Eine ganze Nacht, ohne diese verdammten Träume.
Irgendwann, wenn alles getan war, würde ihr das gelingen. Doch bis dahin war es noch ein langer Weg, dessen Gefahren sie nicht unterschätzen durfte.
10
An diesem sonnigen Freitagmorgen war Michael mit seinen Nerven am Ende. Er war so niedergeschlagen, dass er unfähig war, ins Büro zu gehen. Es war bereits neun Uhr, und er saß immer noch zu Hause. Die ganze Nacht schon hatte er sich bittere Vorwürfe gemacht, denn er hatte sein Ziel nicht erreicht. In genau acht Stunden ging Lisas Flieger zurück in die Karibik, und es war ihm nicht gelungen, sie umzustimmen.
Voller Verzweiflung öffnete er das Fenster. Die Morgensonne spiegelte sich im Wasser, am Himmel zogen gemächlich einige Wolken vorbei, und die milde Luft duftete süß nach Blumen. Der Frühling setzte sich durch. Er vertrieb nun endgültig den Winter, brachte den letzten
Schnee zum Schmelzen und die Osterglocken auf der Wiese zum Blühen. Auf der alten Trauerweide hatten die Vögel ihren alten Stammplatz wieder eingenommen und zwitscherten munter vor sich hin.
Im Grunde war das ein Gute-Laune-Wetter. Normalerweise hätte er an einem Tag wie diesem das Boot ins Wasser gelassen und eine Spritztour über den See gemacht. Im Augenblick aber war ihm alles gleichgültig, denn er war einfach nur deprimiert. In acht Stunden würde Lisa zurückfliegen. Ihre Beziehung war damit erledigt.
Aber was hatte er getan, um Lisa zu halten? Nichts! Nicht ein einziges Mal hatte er offen über seine Gefühle gesprochen. Nie war er auf den Punkt gekommen. Nie hatte er den Mut aufgebracht, sie zu fragen, ob sie ihre Pläne für ihn ändern würde. Er war wirklich ein großer Held!
Ein Held? Nein, ganz und gar nicht! Er war ein Idiot. Ein Angsthase. Ein Feigling. Ein Versager. Und zwar ein jämmerlicher. Erik würde ihn auslachen. Aber wie hätte er es auch anstellen sollen? Ihm hatten schlichtweg die Worte gefehlt.
Ausreden, schimpfte seine innere Stimme. Alles nur Ausreden! Was hatte er für überschwängliche Ideen! Sogar einen Heiratsantrag wollte er Lisa machen. Grandios, wie er das umgesetzt hatte. Er sank frustriert in seinen Schreibtischsessel.
Lass sie nicht fliegen - für den Heiratsantrag ist es noch nicht zu spät, hämmerte es plötzlich in seinem Kopf. Aber das war verrückt. Außerdem wusste er gar nicht, ob
sie ihn heiraten wollte. Frag sie doch wenigstens, meldete sich die innere Stimme erneut.
Er überlegte. Was hatte er
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