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Puppentod

Titel: Puppentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Winter
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Bootshaus abreißen. Geht das nicht alles zu weit?«
    »Wie bitte?« Michael glaubte, sich verhört zu haben. »Was will Papa tun?«
    »Er lässt das Bootshaus abreißen«, wiederholte Hilde und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, »weil es zu nah am Haus steht. Er lässt im hinteren Teil des
Grundstücks ein neues bauen, ein sehr modernes natürlich. Hier vorn jedenfalls wird alles eingezäunt. Aber keine Angst, wir werden den Zaun nicht sehen. Es wird eine schöne Schilfbepflanzung angelegt, so eine Art Biotop, weißt du …« Ihre Worte troffen vor Ironie. Sie redete sich in Rage, und ihre Wangen liefen puterrot an vor Erregung. »Zukünftig sitzen wir in lauen Sommernächten nicht mehr am Seeufer, sondern in unserem Biotop, umgeben von asiatischem Schilfgras, Zäunen und Kameras. Und am nächsten Tag setzen wir uns vor den Fernseher und schauen uns alles noch einmal auf DVD an. Ist doch toll, nicht wahr? Wer kann das schon! Kennst du jemanden? Ich nicht.«
    »Was soll denn aus Großvaters Büro werden?«, fragte Michael entsetzt.
    »Das wird natürlich auch abgerissen«, sagte sie zornig, nahm die Puppen vom Tisch und fügte hinzu: »Wir werden deinem Vater erst mal nichts davon erzählen. Ich bringe die Puppen ins große Gästezimmer und lege sie in Omas alte Truhe.«
    Bei dem Wort Truhe kam ihm blitzartig ein Gedanke - eine Erinnerung, ein kurzes Déjà-vu, etwas, das eine Verbindung suchte. Doch bevor er es greifen konnte, verschwand es unwiederbringlich in den Tiefen seines Unterbewusstseins.
    »Was überlegst du?«, wollte seine Mutter wissen.
    »Ich bin verärgert«, sagte er. »Ich muss darüber mit Papa reden. Wo ist er eigentlich?«
    »Unten am Bootshaus. Vor einer halben Stunde ist jemand von der Abrissfirma gekommen.«

    Ihm blieb fast der Mund offen stehen. »So geht das nicht«, rief er erbost. »Er kann nicht immer machen, was er will. Er muss uns doch wenigstens mal fragen - immerhin wohnen wir auch hier.«
    »Diese Information wird ihm neu sein«, sagte Hilde. Dann drehte sie sich um und verließ mit den Puppen im Arm das Büro.

    Entschlossen marschierte Michael hinunter zum Bootshaus, doch als er dort ankam, war weder sein Vater noch jemand von der Abrissfirma zu sehen. Suchend sah er sich um. Und als er wirklich niemanden entdecken konnte, ging er hinein. Die Erinnerungen an die Zeiten, die er hier mit seinem Großvater verbracht hatte, würden bald nur noch in seinen Gedanken existieren, das zumindest befürchtete er. Denn hatte sein Vater sich etwas in den Kopf gesetzt, interessierten ihn die Einwände der anderen herzlich wenig.
    Trotzdem wollte Michael versuchen, ihn umzustimmen. Schließlich ging es hier nicht um irgendein Bootshaus, sondern darum, das Andenken an seinen Großvater zu erhalten. Darüber konnte sein Vater sich nicht ohne Weiteres hinwegsetzen. Während er das überlegte, bemerkte er, dass die Tür zum Büro offen stand. Sie war nur angelehnt, und der Schlüssel steckte im Schloss. Verwundert warf er einen Blick hinein. Als er feststellte, dass dort niemand war, betrat er, beinah ehrfürchtig, den halbdunklen Raum.
    Statt das Licht anzuschalten, öffnete er die Fenster und die Fensterläden, ließ frische Seeluft und die Abendsonne
herein. In den geradlinig einfallenden Sonnenstrahlen tanzten Millionen winzig kleiner Staubkörnchen, die Möbel waren von einer dicken Staubschicht überzogen, von der Decke hingen Spinnweben herab, und fette, schwarze Spinnen saßen inmitten ihrer kreisförmigen Netze. Außerdem roch es muffig und modrig, nach Schmutz und feuchtem, verfaultem Holz. Sein Großvater würde sich im Grab umdrehen, könnte er seinen geliebten Hobbyraum in diesem Zustand sehen.
    Traurig setzte sich Michael auf den wuchtigen Mahagonischreibtisch, ließ die Füße in der Luft baumeln und betrachtete die alten Fotos an der Wand. Genauso hatte er früher hier gesessen, wenn er seinem Großvater eine seiner selbst geschriebenen Geschichten vorgelesen hatte. Sein Großvater war der einzige Mensch, der sich je für seine Geschichten interessierte. Ganz besonders mochte er die von dem raubeinigen Piratenkapitän, der, zu Zeiten von Christoph Kolumbus, vor den Karibischen Inseln mit seinem Gefolge spanische Schiffe überfiel und die Schätze an die Armen verteilte. Eines Tages aber raubte er von einem der Schiffe eine spanische Prinzessin und verliebte sich in sie. Doch die spanische Kriegsflotte verfolgte ihn so lange durch das Karibische Meer, bis er sie

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