Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Puppentod

Titel: Puppentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Winter
Vom Netzwerk:
endlich etwas über ihre Familie und über diesen Unfall zu erfahren, sagte er spontan:
    »Erzähl mir von deiner Familie. Was genau ist damals passiert?«

    Diese Frage schien sie zu treffen wie ein Schlag. Anscheinend war er so plötzlich auf dieses Thema gekommen, dass sie nicht die Möglichkeit hatte, sich darauf vorzubereiten und einen Schutzwall aufzubauen. Somit war sie ihren Gefühlen, die sie sonst mit großer Willenskraft kontrollierte, rigoros ausgeliefert. Ihre Mimik wurde zu Stein, ihr Körper verkrampfte sich, sie schien kaum noch zu atmen, und ihre Hand, die unter der seinen lag, begann zu zittern. Sie hatte Angst, panische Angst, das sah er in ihren Augen. In diesem Moment befand sie sich nicht mehr in der Gegenwart, sondern war zurückversetzt in ein schreckliches Ereignis. In ein Ereignis, das sie Nacht für Nacht in ihren Albträumen durchlebte, das nicht verarbeitet war, sich tief in ihre Seele gebrannt hatte und sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Es schien ein nie endender Schmerz zu sein, den die Zeit nicht zu heilen vermochte. Sie war traumatisiert, das wurde Michael zum ersten Mal richtig bewusst.
    Spontan nahm er sie in die Arme und zog sie eng an sich heran, während Lisa bitterlich zu weinen anfing. Sie hatte solche Angst, dass sie sich in seinen Armen verkroch, als suche sie dort Schutz. Er hielt sie, so fest er konnte, und flüsterte ihr zu, dass er bei ihr sei, wiederholte die Worte, bis sie sich allmählich beruhigte und den Kopf still an seine Brust lehnte. Dann küssten sie sich; küssten sich wie zwei Ertrinkende - und schliefen miteinander. Nicht in leidenschaftlicher Erregung, wie in dieser Nacht in der Karibik, nicht mit dieser explodierenden Lust und der Begierde, sondern zärtlich und sanft, mit aller Hingabe an den anderen, liebevoll und
ineinander verschlungen, wie umgeben von einem hauchzarten Kokon - gewebt aus den drei Worten, die die Antwort auf Michaels Frage waren.

    Mit aller Macht kämpfte Michael gegen die Müdigkeit. Er musste wach bleiben und hatte sich das so fest vorgenommen, dass er sofort aufschreckte, wenn der Schlaf ihn zu übermannen drohte. Er wollte wissen, ob Lisa in dieser Nacht wieder wegging. Und er wollte erfahren, wohin. Deshalb musste er unbedingt wach bleiben. Noch schlief sie ruhig neben ihm, aber es war auch erst kurz vor halb eins, die Nacht war noch lang. Wie sollte es ihm nur gelingen, nicht einzuschlafen? Vielleicht half es, sich auf etwas zu konzentrieren. Er könnte ein Gedicht aufsagen. Ihm fiel der Erlkönig ein:
    Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind …
    Da stockte er bereits, weil ihm der Rest der ersten Strophe entfallen war. Doch an die nächste konnte er sich noch gut erinnern:
    Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
    Er hörte ein Geräusch. Lisa stand auf. Sie flüsterte seinen Namen und flüsterte ihn ein zweites Mal, aber er stellte sich schlafend und reagierte nicht. Im Dunkeln
kleidete sie sich an und huschte lautlos aus dem Zimmer.
    Jetzt musste er sich beeilen. Er sprang aus dem Bett, zog hastig die bereitgelegten Sachen an, Jeans, Pullover und Schuhe, öffnete vorsichtig die Tür und warf einen prüfenden Blick hinaus. Es war alles dunkel und still. Von unten hörte er das leise Klacken der Haustür. Lisa hatte die Villa verlassen. Nun durfte er keine Zeit mehr verlieren, flog fast die Treppe hinunter und sah sie gerade noch in Richtung Eingangstor laufen. Im Schutz der Zypressenbäume folgte er ihr und hoffte inständig, sie nicht zu verlieren, denn sie war eindeutig schneller als er.
    Deshalb wunderte er sich auch, dass er sie am Eingangstor einholte. Sie stand vor den sich öffnenden Flügeln und wartete. Aber worauf? Wieso war sie nicht längst hinausgeschlüpft? Dann aber beobachtete er etwas sehr Eigenartiges. Nachdem das Tor vollkommen geöffnet war, legte sich Lisa auf den Bauch und robbte, eng an der rechten Mauerseite entlang, hindurch. Danach sprang sie auf und verschwand in der Dunkelheit, während sich die zwei schmiedeeisernen Flügel des Tores lautlos wieder schlossen. In letzter Sekunde huschte er noch hindurch und erkannte im matten Schein der Laternen, dass Lisa die Straße in Richtung Starnberg entlanglief.
    Sie war wirklich sehr schnell und lief wie eine Athletin, sodass er Mühe hatte, den Anschluss nicht zu verpassen, zumal er auf der Hut sein musste, nicht von ihr bemerkt zu werden.

    Keine fünfhundert Meter entfernt

Weitere Kostenlose Bücher