Puppentod
Dunkelheit, wobei ihm bewusst wurde, dass er keine Taschenlampe bei sich hatte. Glücklicherweise fand er eine hinter dem Beifahrersitz.
Als er ausstieg, war ihm unheimlich zumute. Aus dem dunklen, düsteren Wald drangen eigenartige Geräusche - das leise Rascheln von Blättern, das Knacken von Ästen, der Ruf eines Käuzchens, der Schrei eines Fuchses. Plötzlich schreckte kreischend ein Tier vor ihm auf und flüchtete in das dichte Geäst. Dabei erschrak er so sehr, dass ihm beinah die Taschenlampe aus der Hand gefallen wäre. Ihm war nicht wohl, hier nachts am Waldrand. Schon früher hatte er für Nachtwanderungen nichts übriggehabt, und auf die Idee, den Pfadfindern beizutreten, war er auch nie gekommen. Doch er wollte unbedingt wissen, was Lisa zu dieser Zeit hierherführte. Deshalb fasste er sich ein Herz und marschierte los. Er nahm sogar die Abkürzung über die dunkle Wiese und stapfte im matten Lichtkegel seiner Lampe tapfer durch das feuchte Gras auf die St.-Anna-Kapelle zu, die ruhig und friedlich dalag.
Als er die Kirche erreichte, war dort alles dunkel und still. Außerdem stellte er fest, dass sie verschlossen war. Verwundert blickte er sich um. Auch den Wagen mit dem Hamburger Nummernschild konnte er nirgendwo entdecken. Aber dafür bemerkte er etwas anderes. In einem Fenster des alten Hauses schräg gegenüber sah er
einen flackernden Lichtschein. Lisa war nicht in der Kirche! Sie war in dem alten Haus. Ein Schauer jagte ihm über den Rücken. Es war kurz nach Mitternacht. Geisterstunde. Ihm fiel ein, was sie damals zu ihm gesagt hatte: Es ist ein Geisterhaus. Hast du das nicht gespürt?
Er schlich sich an, wobei das hohe Gras ihm Schutz bot, und wollte einen Blick durch das Fenster werfen, aber es war zu hoch. Er versuchte, etwas zu finden, worauf er sich stellen konnte. Ohne Erfolg.
Deshalb schlich er vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen, um die Hausecke herum und stieß dort auf ein zweites Fenster. Dieses Mal hatte er Glück. Wie für ihn bestellt, stand darunter eine kleine Bank. Sie war fast zugewachsen von Gras und von den Rosenbüschen, die so nah an das Haus heranragten, dass ihre Blätter schon das Mauerwerk berührten. Außerdem rankte dichter Efeu über das Fenster, sodass zum Hineinsehen nur ein schmaler Streifen blieb. Doch es genügte, um alles zu erkennen. Michael sah drei brennende Kerzen vor dem dunkelgrünen Kachelofen auf dem Fußboden stehen. Und er sah Lisa. Unter dem anderen Fenster, fest an die Wand gepresst wie ein ängstliches Tier, kauerte sie auf dem Boden und weinte.
Er war wie vor den Kopf geschlagen und wäre am liebsten sofort zu ihr geeilt, um sie in den Arm zu nehmen. Doch sein Verstand warnte davor, diesem ersten Impuls nachzugeben. Besser wäre es, nach Hause zu fahren, sich ins Bett zu legen und morgen früh so zu tun, als hätte er tief und fest geschlafen. Alles andere konnte sich gegen ihn wenden.
Er wusste nun etwas sehr Wichtiges, und allein dafür hatte sein nächtlicher Ausflug sich gelohnt. Lisa hatte dieses Haus nicht durch Zufall entdeckt und die Hausbesichtigung nicht veranlasst, weil es eine verrückte Idee von ihr gewesen war. Das Haus war der Schlüssel zu ihrem Geheimnis, darin war er sich absolut sicher. Hier lebten ihre bösen Dämonen, von denen sie glaubte, dass sie stärker seien als die Liebe. Deshalb musste er alles über dieses Haus herausfinden, um die Dämonen zu verjagen und ein für alle Mal in die Flucht zu schlagen.
Er bahnte sich einen Weg durch das hohe Gras, stieg über den Gartenzaun und drehte sich noch einmal nach dem Haus um. Es lag im Dunkeln, eingehüllt in das Blauschwarz der Nacht, umrankt von Efeu und von den Rosenbüschen. Es ist ein Geisterhaus, hatte Lisa gesagt und ihn gefragt: Hast du das nicht gespürt? Nein, damals nicht, dachte er. Aber jetzt, in dieser Nacht, spürte er es ganz deutlich.
6
Das flackernde Kerzenlicht warf Schatten an die Wand - schwarze, zuckende Schattengebilde in einem leeren Raum. Es war, als gaben sich die Geister im Kerzenlicht zu erkennen. Und wispernde Stimmen schwirrten umher, die Lisa etwas zuflüsterten, was sie nicht verstand.
Sie war hierher zurückgekehrt, um sich dem Schrecken der Nacht zu stellen, dem Teufel ins Angesicht zu
blicken und sich zu erinnern. Ihre Seele hatte das letzte Stück der damaligen Nacht in die Tiefen ihres Unterbewusstseins verbannt; sie erinnerte sich nicht mehr, was passiert war, nachdem der fremde Mann den Raum betreten hatte. Sosehr sie
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