Puppentod
für einen kurzen Moment zu genießen. Dann blickten ihre großen, schwarzen Augen ihn ernst an. »Das kannst du nicht«, erwiderte sie leise und ging zurück ins Bad. Unentschlossen sah er ihr nach. Was sollte er tun? Zu ihr gehen und mit ihr reden? Sie bitten, ihm alles zu erzählen? Nein, dachte er, das wäre zu früh.
Also setzte er sich wieder an den Laptop und rief erneut die Internetseite mit den Immobilienmaklern der Umgebung auf. Fix notierte er sich Telefonnummer und Anschrift von Frau Lämmers, ließ den Zettel in seiner Hosentasche verschwinden und schaltete den Computer aus.
»Ich gehe frühstücken«, rief er ihr zu. »Kommst du mit?«
»Ich habe keinen Hunger«, antwortete sie.
Der Tag und die Morgensonne nahmen dem alten Haus das Bedrohliche. Michael fand, dass es längst nicht mehr so unheimlich wirkte wie in der vergangenen Nacht. Trotzdem war es von einer düsteren Aura umgeben und hatte, selbst bei strahlendem Sonnenschein, etwas Übernatürliches und Gespenstisches an sich.
Er war an diesem Morgen noch einmal hierhergefahren, um sich auf Spurensuche zu begeben. Jetzt, da er das Haus mit anderen Augen sah, registrierte er vielleicht Dinge, die ihm vorher gar nicht aufgefallen waren.
Er war darauf eingestellt, die Haustür mit einem kräftigen Fußtritt zu öffnen, stellte jedoch fest, dass sie nicht verschlossen war. So betrat er das Haus, mit leicht eingezogenem Kopf, um sich nicht am Türbalken zu stoßen, und schaute sich um. Er versuchte, etwas zu erspüren - etwas von der Atmosphäre dieses Hauses aufzunehmen. Doch da war nichts. Außer dass es muffig roch und der Schimmel an den Wänden klebte, konnte er nichts feststellen, nichts empfinden und nichts hören. Höchstens das lustige Treiben der Holzwürmer oder das Scharren der Mäuse unter den Dielen. Das war alles.
In dem Zimmer mit dem Kachelofen standen drei abgebrannte Kerzen auf dem Fußboden. Er ging in den Raum hinein, durchschritt ihn langsam von rechts nach links und wieder zurück und ließ seinen Blick dabei aufmerksam über den Fußboden zu den Wänden und bis hinauf zur Decke gleiten. Dort war ein Haken, an dem früher wahrscheinlich eine Lampe gehangen hat. Sonst nichts.
In der oberen Etage erging es ihm ähnlich, und auch auf dem Dachboden sah er nur die Dinge, die ihm beim ersten Mal schon aufgefallen waren. Unter der Dachluke stand die alte Nähmaschine mit dem Nähkorb, in dem noch Nadeln und Garn lagen. Außerdem waren unzählige Knöpfe darin, ein Reißverschluss, eine Schere, und
unter bunten Stoffresten lag ein Foto. Er nahm es heraus und erschrak, weil er glaubte, Lisa darauf zu sehen. Doch sie war es nicht. Die Frau auf dem Foto sah ihr nur unglaublich ähnlich.
Sie hatte ebenso schwarze Augen, ein ebenso schmales Gesicht, den dunklen Teint, und sie hatte Lisas Lächeln. Sie trug einen Strohhut und hielt eine Gartenschere in der Hand, mit der sie dicke, gelbe Blüten von den Rosenbüschen schnitt. Er betrachtete das Bild in allen Details. Es war hier am Haus aufgenommen, am rechten Bildrand erkannte er ein Stück von der Holzbank, auf der er vergangene Nacht gestanden hatte. Er steckte das Foto ein, zog es aber sofort wieder aus der Tasche und legte es zurück. Lisa sollte nichts ahnen. Es durfte nichts fehlen. Es musste alles so bleiben, wie es war.
Auf diesem Dachboden gab es so viele stumme Zeugen, die von dem Leben in diesem Haus erzählten, Geschichten von den Menschen und ihren Schicksalen. Nur leider verstand er es nicht. All diese Dinge waren für ihn wie Hieroglyphen und bargen eine rätselhafte Symbolik, die er nicht entziffern konnte. Die zwei Koffer zum Beispiel und die verschlossene Truhe, in der wahrscheinlich persönliche Schätze lagen: Bücher, die die Menschen in diesem Haus gelesen, oder Tagebücher, die sie geschrieben hatten, ihre Poesiealben, Liebesbriefe oder alte Fotografien in Schuhkartons. Er rüttelte am Schloss der Truhe, doch es gab nicht nach. Und einen Schlüssel konnte er nirgendwo entdecken. Dabei hätte der Inhalt ihn wirklich brennend interessiert, doch er tröstete sich damit, dass vielleicht nur Tischdecken, Bettlaken
und Spitzendeckchen darin waren, so wie in der Truhe bei ihnen zu Hause, in der jetzt auch die Puppen lagen.
Zwei Ortschaften von der St.-Anna-Kapelle entfernt befand sich das Büro von Frau Lämmers. Es war untergebracht in einem kleinen Anbau ihres Einfamilienhauses, eines biederen Häuschens mit roten Zwergen im Vorgarten. Dieses Ambiente erstaunte
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