Puppentod
sich auch bemühte, ihre Seele gab das Wissen nicht frei. Ihre Träume endeten immer an demselben Punkt, und auch in diesem Haus kam die Erinnerung nicht zurück. Lediglich die Angst ergriff wieder Besitz von ihr, diese übermächtige Angst, die seit damals ihr ganzes Leben beherrschte und die sie nie überwinden würde - egal, wie schnell sie mit dem Boot übers Wasser preschte oder wie tief sie in die Ozeane tauchte.
Gott wusste, dass sie mit dem Tod spielte. Deshalb ließ er sie leben und leiden - Tag für Tag. Wieso holte er sie nicht dorthin, wo auch ihre Mutter war? Weil Ungerechtigkeit Rache brauchte und er sie zu seinem Werkzeug machte? Warum gab er ihr dann nicht die Erinnerung zurück, die sie brauchte, um den Plan mit aller Konsequenz durchzuführen?
Auf dem Boden kauernd, sah sie in das leere Zimmer hinein. Links neben der Tür hatte der Tisch mit der Nähmaschine gestanden und vor dem Kachelofen die Bank, auf der ihre Mutter so gern gesessen hatte. Und zu ihren Füßen, auf einer Decke, hatte Sina mit ihrer Puppe gespielt. Sie hatte der Puppe mit den Kulleraugen einen wunderschönen Namen gegeben, aber selbst den hatte Lisa vergessen. Wieso hatte sie Sinas Puppe im Arm, als sie damals hinter dem Vorhang stand? Sina wollte sie doch nie hergeben? Sie wusste es nicht mehr. Die Ereignisse
waren in einem Raum eingeschlossen, zu dem sie keinen Schlüssel fand.
Sie sah ihre Mama auf der Bank vor dem Kachelofen sitzen und streckte die Hand nach ihr aus, um sie zu berühren. Nur ein einziges Mal noch wollte sie von ihr in den Arm genommen werden, den Kopf an ihre Schulter legen und sie sagen hören, dass alles gut werde. Ihre Mutter hatte fest an das Glück geglaubt, doch es war ihr nie recht gewogen gewesen. Sie hatte daran geglaubt, dass Gott auf ihre kleine Familie aufpassen würde, und jeden Abend dafür gebetet. Er schien es nicht gehört zu haben.
Das letzte Stück dieser Nacht, das ihr fehlte, sollte den Weg in ihr Bewusstsein zurückfinden. Sie musste sich erinnern! Das war sie ihnen schuldig.
Was war passiert, nachdem der fremde Mann gekommen war?
Sie hatte den Vorhang ein Stück beiseitegeschoben und das rote Licht gesehen, als er plötzlich im Zimmer stand und etwas sagte. Etwas sehr Wichtiges, was sie sich unbedingt merken wollte. Woran sie immer denken und was sie nie vergessen wollte.
Konzentriert starrte sie in die brennenden Kerzen, die auf einmal zu flackern begannen, als gäben die Geister ihr einen Hinweis. Ein Fetzen Erinnerung durchzuckte ihren Kopf. Es war in dem Zimmer stockdunkel gewesen. Nur im Flur brannte eine Glühbirne, die an einem Draht über der Treppe baumelte. Sie hatte ein rotes Licht gesehen, doch das hatte es nie gegeben. Es war das Blut auf dem Fußboden, das den schwachen
Lichtschein vom Flur rot färbte. Blut! Überall war Blut gewesen!
Wie von Sinnen rappelte sie sich auf und rannte aus dem Haus, lief hinein in den Wald und schrie, so laut sie konnte. Sie schrie … und schrie … und es war, als gäbe der Wald ihren Schrei zurück, wie ein Echo, das all ihren Schmerz, ihre Angst und ihre Verzweiflung reflektierte. Dann war es totenstill. Alle Geräusche des Waldes schienen verstummt. Nur der Ruf eines Käuzchens hallte durch die Dunkelheit, während silbriges Mondlicht durch die Kronen der Bäume fiel. Sie flehte Gott an, sie zu ihrer Mutter zu holen. Er konnte sie hier nicht allein lassen - in dieser kalten, dunklen Nacht, in dieser kalten, dunklen Welt.
7
Michael war an diesem Morgen früh aufgestanden. Nach seiner nächtlichen Verfolgungsaktion war sein Körper zwar todmüde, doch sein Geist strotzte vor Energie. Er hatte sich für den heutigen Tag viel vorgenommen und wollte keine Zeit verlieren. Deshalb saß er bereits vor seinem Laptop und googelte im Internet, bis Lisa, in ein Handtuch gewickelt, aus dem Badezimmer kam. Da klickte er die gefundene Seite blitzschnell wieder weg, drehte sich zu ihr um und rief fröhlich: »Guten Morgen, Schatz. Wie hast du geschlafen?«
»Sehr unruhig«, erwiderte sie. »War etwa Vollmond?«
»Ich glaube nicht«, sagte er und betrachtete ihr blasses Gesicht. Sie sah müde und erschöpft aus, wirkte traurig
und bekümmert. Es tat ihm weh, sie in diesem Zustand zu sehen, weshalb er ihr gern etwas Liebes sagen wollte. So stand er auf, schloss sie in die Arme und flüsterte zärtlich: »Ich liebe dich. Ich werde immer für dich da sein und dich beschützen.«
Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und schien seine Umarmung
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