Purgatorio
sein. Heute Abend wirst du ihn kennenlernen.
Lange habe ich die Fotos und Ausschnitte in der Hand behalten. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Natürlich werde ich sie um acht an der Ecke George und Paterson Street erwarten. Das Toscana gibt es nicht mehr, aber an einem bestimmten Punkt der Wirklichkeit ist es nicht mehr von Belang, was es gibt und was nicht. Wer ist dieser Simón, der bei ihr ist? Ich weiß, dass Simón Cardoso gestorben ist, das haben mehrere Zeugen ausgesagt. Folterungen, ein Schuss mitten in die Stirn: Alles ist in den Akten des Prozesses gegen die Kommandanten festgehalten. Vielleicht ist der, den ich kennenlernen soll, ein Hochstapler, eine von Orson Welles im Jenseits geschaffene Illusion. Wenn es für Emilia unwichtig ist, weiß ich nicht, warum es für mich wichtig sein soll.
Heute Abend werde ich ihr die Ausschnitte zurückgeben, ich werde sie bitten, mir zu erlauben, die mir bereits bekannten Splitter ihrer Geschichte zu publizieren. Und in der bis dahin verbleibenden Zeit kann ich mir von dem, was ich in den Heften noch nicht gelesen habe, Notizen machen. Das meiste sind oberflächliche Schilderungen, Kommentare zu den Fernsehserien jener Jahre, und auch der Bericht eines tückischen Zwischenfalls, der zum Bruch zwischen Emilia und ihrem Vater führte. Auf einem der Ausschnitte sehe ich einen kleinen roten Kreis eingezeichnet und darunter zwei Verse aus Dantes »Fegefeuer« in der unterwürfig-kindlichen Schrift, die Emilia anscheinend damals hatte:
Quel color che l’inferno mi nascose.
Ich kenne den Vers, er ist einer der meistzitierten des ganzen Epos.
»Da ließ die Farbe, die der Hölle Qualen/An mir verhüllt, er völlig wiederkehren.«
Nichts an Emilia ist Zufall, so dass ich beim Schreiben dieser Zeilen auf eine verborgene Geschichte anspiele, die sie von innen heraus verbrannte, die sie aber nicht vergessen mochte.
Ich habe erzählt, dass ich, als sie mich auf dem Handy anrief, in einem ihrer Hefte las: »Ich habe erfahren, dass D. Modistin ist, und sie gebeten, mir ein paar Kleider zu machen …« Das war erst der Anfang. Ende November wollte das spanische Königspaar nach Argentinien kommen, und sie sollte Dupuy zum Galafest begleiten, das der Aal geben würde. Der Doktor bestellte bei seinem Schneider einen Sommersmoking und sagte Emilia, sie solle die beste Modedesignerin von Buenos Aires auftreiben und dazu telefonisch die Redakteurinnen von
Para Ti
konsultieren. Ich traue dir nicht bei der Wahl deiner Garderobe, sagte er, und an meiner Seite darfst du nicht weniger sein als die Königin. Sie sollte ein Kleid tragen wie die von Audrey Hepburn in
Ein süßer Fratz
, obwohl Emilia mit Audrey Hepburn nur die langen Beine und den Tänzerinnenhals gemeinsam hatte. Ich will ein einfaches, aber zugleich unvergessliches Kleid, sagte er. Und für diesen Abend werde ich dir die Diamantohrringe geben, die deine Mutter nicht mehr tragen kann. Nichts konnte die arme Ethel tragen, nicht einmal die immer schlaffere Haut ihres Körpers. Hartnäckige Allergien bedeckten sie mit Wunden, und sie jammerte wie ein Kätzchen sogar über die Berührung mit dem Nachthemd; die fünf Tage, die sie im alten Haus in der Calle Arenales war, musste sie beinahe nackt verbringen und sich ständig im lauwarmen Wasser der Badewanne Linderung verschaffen. Emilia wich nicht von ihrer Seite: Sie trällerte ihr vor wie den Puppen ihrer Kindheit, kämmte sie und streichelte ihr den Kopf, bis ihr klar wurde, dass man ihr in der geriatrischen Klinik eine bessere Pflege würde angedeihen lassen. Am sechsten Tag brachte sie sie wieder hin und kehrte in die Einsamkeit und Folter zurück, um die Schuld abzuzahlen, die ihr Dupuy unerbittlich abverlangte.
In diesen letzten Tagen von 1978 publizierten Zeitungen und Rundfunksender nur, was ihnen erlaubt wurde. Das hatten sie schon vorher getan, doch jetzt waren Unterwürfigkeit und Angst zum täglichen Brot geworden. Wenn Menschen, Häuser, in denen die Armen Zuflucht gesucht hatten, und die Ersparnisse von Leichtgläubigen und Rentnern verschwanden, warum sollten nicht auch die Unannehmlichkeiten der Wirklichkeit verschwinden? Kurz und gut, die Leser gaben sich als Ignoranten und sagten sich immer wieder, Schweigen ist das Heil. Die Kommandanten delegierten die Bewahrung der Unwirklichkeit an Dupuy und kümmerten sich nur um die bewaffnete Unterdrückung. Madrid und Barcelona waren Höhlen flüchtiger Extremisten, und das spanische Königspaar sollte den
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