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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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wie beiläufig von ihr. Sie sagte, Torre Nilsson habe sie auf eine einzige Rolle festgelegt, sich vor dem Sex ängstigend und andauernd in Gefahr, vergewaltigt zu werden, ohne es zu merken. Als die Figur ausgelutscht war, nutzten andere Regisseure dieses Bild von Wehrlosigkeit und Dummheit, um sie zum perfekten Opfer zu machen: die Jugendliche, deren Jungfräulichkeit in einem Bordell ein Ende gesetzt wird, die Landpomeranze, die einem Schurken vor dem Altar ewige Treue schwört im Vertrauen darauf, dass dieser zeugenlose Schwur genügt, um vor dem Gesetz verheiratet zu sein. Von Melodram zu Melodram zu gehen verwirrte sie. Eines schönen Tages wusste sie nicht mehr, welches ihr wahres Wesen war, und lief während der Dreharbeiten zu ihrem letzten Film davon. Sie stieg in einen Bus, der gerade vorbeifuhr, und verirrte sich hoffnungslos. Nie erzählte sie, was sie in den darauffolgenden Monaten getan hatte. Sie hatte keine Familie, nur eine Nachbarin, mit der sie manchmal eine Pizza essen ging. Vielleicht wohnte sie in einem Hotel im Dorf, vielleicht zog sie sich an einen Strand zurück, denn bei ihrer Rückkehr hatte sie eine stark sonnengebräunte Haut. Die Produzenten riefen sie nicht mehr an. Sie ging ins selbe Haus zurück, behielt die Pizzagewohnheit mit der Nachbarin bei und wurde Modistin. Schon in ihrer Jugend hatte sie gern Kleider entworfen, Muster ausgeschnitten, gestickt, Masken für Puppen geschaffen. Sie eröffnete ein Atelier in ihrem Viertel, nahm zwei Straßenkatzen bei sich auf und sprach nie mehr über ihre Vergangenheit. Sie tauchte einzig aus ihrem Verschwinden auf, um dem Regisseur Lebewohl zu sagen, der sie entdeckt und ihr Leben verändert hatte. Sie wollte nur ein paar Minuten vor dem aufgebahrten Sarg stehen, eine Blume darauf legen und ein Gebet sprechen. Der Verstorbene selbst war ihr weniger wichtig, als sich von einem schon abgestorbenen Teil ihres Lebens zu verabschieden. Auf dem riesigen Plakat neben der Tür erschien sie im Vordergrund, gepeinigt vom Schatten zweier Männer. Als sie sich so erblickte, den Blicken ausgesetzt, hatte sie das Gefühl, dass man auch bei ihr Totenwache hielt, und war drauf und dran, die Flucht zu ergreifen. Emilia, die sie hinausgehen sah, glaubte, sie werde gleich ohnmächtig, und stützte sie. Erst nach einer Weile erkannte sie sie. Sie war nicht mehr die geheimnisvolle Jugendliche auf dem Plakat. Sie war sehr dick, ungepflegt, wie ein Klatschmaul aus dem Viertel. Vor langer Zeit hatte ich sie im Haus in der Calle Arenales kennengelernt, als sie gemeinsam mit Torre Nilsson Dupuy bitten wollte, sich bei einem hoffnungslos rückschrittlichen Zensor zu verwenden, dessen Schere die besten Filme der Zeit zerstörte, von Buñuel über Kubrick bis zu Dreyer und Fellini. Man durfte weder Geburten noch Küsse in der Nähe von Kirchen sehen, wie fromm sie auch sein mochten. Torre Nilsson hatte er bereits zwei Filme verboten, und jetzt drohte er ihm den dritten zu verstümmeln. Ich weiß nicht, was mein Vater geantwortet hat, sagte Emilia. Hingegen weiß ich, dass sich das junge Mädchen weinend zurückzog. Damals war sie wie ein Schulmädchen, mit einer bis oben geschlossenen Bluse, einem großen Spitzenkragen und Schleifchen in den Locken. Sie hatte dasselbe maßlos staunende Gesicht wie in ihren Filmen, als glitte ihr Körper unversehrt von der Fiktion in die Wirklichkeit hinüber. Die vor dem aufgebahrten Sarg zaudernde Frau war bereits ein anderer Mensch, aufgedunsen, mit dickem Bauch, einem Krötendoppelkinn. Emilia hatte Mitleid und geleitete sie auf den Gehweg hinaus an die frische Luft. Dann lud sie sie ins Café an der Ecke ein und blieb bei ihr, bis sie wieder etwas gefasster war. Das war alles. Emilia sagte mir nicht, dass das der Moment war, in dem die Aufnahme von ihnen gemacht wurde, die ich nun anschaue. Den Rest der Geschichte kenne ich aus dem Heft mit den Aufzeichnungen und von den Ausschnitten, die sie in der Wohnung in der North Fourth Avenue zurückgelassen hatte.
    Je tiefer ich in Emilias Leben eintauche, desto mehr wird mir klar, dass es von Anfang bis Ende eine Kette von Verlusten, Verschollenheiten und sinnlosen Suchen ist. Sie verbrachte Jahre damit, einem immer neuen Nichts nachzugehen, Leuten, die es nicht mehr gab, und sich an Ereignisse zu erinnern, die nie geschehen waren. Sind wir das denn nicht alle? Greifen wir denn im Leben nicht dauernd die Geschichte an, um in ihr ein Zeichen dessen zu hinterlassen, was wir waren, ein elender

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