Purgatorio
Heldenepos schon jetzt schreiben lassen, bevor Dummheiten veröffentlicht werden. Ich würde sagen, London hätte geplant, in Feuerland einzufallen, und wir hätten uns mit den vereinten Kräften der ersten und der dritten Weltmacht geschlagen. Das hat schon Professor Addolorato gesagt, bemerkt ein anderer der Kommandanten. Dann beauftragen Sie doch Addolorato mit den Büchern, sagt Dupuy eingeschnappt. Ich, meine Herren, weiß nur, dass man die Wirklichkeit, wenn sie sich feindlich zeigt, so schnell wie möglich zum Verschwinden bringen muss. Er zieht sich zurück und lässt auf dem Schreibtisch des neuen Präsidenten ein Exemplar von
La República
liegen. Auf der Frontseite hat er geschrieben: »Die Zeiten der Demut sind gekommen. Geben wir den Politikern die Chance zu regieren. Bieten wir ihnen den weisen Schutz unserer militärischen Führer an. Dieses Land muss weiterhin das Land der Freiheit, des Kreuzes und Schwertes bleiben.«
Die anderen Fotos in der Mappe stimmen mich traurig. Ich sehe Emilia und Dr.Dupuy vor Leopoldo Torre Nilssons Sarg stehen. Das Datum: 8 . September 1978 . Die Leute, die am aufgebahrten Sarg vorbeiziehen, sind mehr oder weniger dieselben, die fast vier Jahre später im Fieber des Falkland-Solidaritätsfestes entbrennen werden. Und dieselben, die sich beim Bejubeln der WM -Tore den Hals feuerrot geschrien haben. 1978 ist das finsterste Jahr der finsteren Diktatur. Im Dezember feiern die Kommandanten ihre dreifache Weltmeisterschaft: im Fußball, im Hockey und in der Schönheit, als eine einundzwanzigjährige Frau aus Córdoba zur Miss World gewählt wird. Ich glaube nicht, dass Torre Nilsson die Inszenierung seiner Aufbahrung, die die Fotos zeigen, gutgeheißen hätte: den dunklen Zedernholzsarg und acht mit Arabesken verzierte Griffe, um ihn zu transportieren, das Kruzifix, das auf seinen toten Kopf herabzustürzen droht, die Blumen, die ihn mit ihrem schweren Duft wie in ein Leichentuch hüllen, das Plakat des
Martín Fierro
neben dem Kruzifix (um das Plakat musste er selbst gebeten haben, er hielt
Martín Fierro
für seinen besten Film, während ich immer noch denke, dass es einer seiner schlechtesten ist). Er hätte sich geschämt, dass sein intimstes Geheimnis der Neugier der Leute preisgegeben wurde: sein Tod, sein Nichtsein, der besiegte, erloschene Körper.
Ich hatte ihn in einem Restaurant in der Nähe dieses Aufbahrungsorts kennengelernt, an einem Abend im Oktober 1958 . Es wunderte mich, dass er noch schüchterner war als ich, und das will etwas heißen, und die Worte mit äußerster Vorsicht fallen ließ, als wären sie Freuden, die für immer verloren gehen. Ich redete wie ein Wasserfall, erzählte von den Toten, die ich im Kino sah und von denen ich wochenlang träumte. Manche Tote sind lächerlich, und ich vergesse sie, kaum ist der Film zu Ende, die lebenden Toten, die Zombies, die Geister, sagte ich. Stärker beeindruckt mich das Bild des personifizierten Todes, so, wie er in Ingmar Bergmans
Das siebte Siegel
erscheint, und die Totenwache einer Bäuerin, die ich kürzlich in
Das Wort
von Carl Dreyer gesehen habe. Ich erzählte, dass mich die Szene zum Weinen gebracht, danach aber enttäuscht habe, weil die Bäuerin auferstanden sei. Torre Nilsson lächelte großzügig. Ah,
Das Wort, Ordet
, sagte er. Ich glaube, Dreyer leugnet hier die Vorstellung des Todes, bezeichnet ihn als Abweichung vom Leben, eine Art Verfinsterung, nach der man wieder erscheinen kann. Das Irreparable, sagte er, ist die Obszönität, mit der man die Toten zur Schau stellt. Von da kehrt man tatsächlich nicht mehr zurück. An diesen Satz denke ich, während ich auf den Fotos sehe, wie Dupuy, der Admiral und Addolorato vor dem wehrlosen Körper Trauer spielen.
Auf einem weiteren Bild begrüßt Emilia eine Frau, die in Torre Nilssons ersten Filmen mitwirkte und jahrelang von der Bühne verschwunden war. Die Frau wirkt verängstigt, als ob man sie bei einem Fehler ertappt hätte und sie sich verstecken möchte. Bis vor zwanzig Jahren publizierten die Zeitschriften Geschichten über ihr Schicksal, alle aus den Fingern gesaugt. Danach wurde ihr Leben uninteressant, und sie fiel der Vergessenheit anheim. Manchmal begegnet mir der verdutzte Ausdruck dieser ehemaligen Schauspielerin auf den Plakaten der Filmotheken, immer dasselbe Gesicht, die ins Nichts schauenden Augen, die von einem dümmlichen Lächeln verwirrten Lippen. An dem Vormittag, an dem wir Mary Ellis’ Grab aufsuchten, sprach Emilia
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