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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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der Vergangenheit bin ich nach Highland Park gekommen und habe es beinahe geschafft. Ich bin nicht wieder nach Buenos Aires zurückgekehrt und habe nie mehr mit meinem Vater gesprochen. Es gab ganze Tage, da habe ich kein einziges Mal an Simón gedacht. Nicht einmal geträumt habe ich von ihm. Am nächsten Morgen verspürte ich Schuldgefühle, aber auch Siegesfreude. Danach ist er allmählich wiedergekommen, wie bei Ebbe und Flut. Wenn ich wüsste, wo sich seine Leiche befindet, müsste ich nicht diese Qualen ausstehen.
    Man hatte uns eine Kürbissuppe und einen Thunfischsalat aufgetragen, aber wir rührten ihn kaum an. Später wurde mir klar, dass wir beide wie aus der Wirklichkeit ausgeschnitten waren und dass es ein beliebiger anderer Ort hätte sein können. Emilia schien begierig zu erzählen, doch in diesem Moment hatte sie mehr Fragen als Geschichten und mehr Wünsche als Fragen. Die Wünsche waren jedoch unerfüllbar – oder vielleicht hatte sie sie sich schon erfüllt und wusste es nur nicht. Nichts ist so schrecklich, wie zu wünschen, was man schon hat, weil man glaubt, man werde es nie bekommen.
    Es ist ja alles längst vorbei. Quäle dich nicht.
    Nein. Das Schlimmste ist, dass ich zu leiden aufgehört habe. Ich gewöhne mich allmählich ans Nichtvorhandensein des einzigen je geliebten Menschen. Ich vermisse ihn, ich weiß, dass ich nicht mehr dieselbe bin, seit ich ihn verloren habe, und trotzdem mache ich weiter, als wäre nichts geschehen. Ich fühle mich mies.
    Dazu hast du keinen Grund. Nancy sagt, du hast ihn fünfzehn Jahre lang gesucht.
    Nur fünfzehn? Ich habe ihn sogar gesucht, bevor ich ihn kennenlernte. Jetzt warte ich, dass er mich sucht. Am letzten Sonntag hat Pater Flannagan in der Predigt vom Fegefeuer gesprochen. Die katholische Kirche glaubte, das Fegefeuer sei die Läuterung, welche die unvollkommenen Seelen brauchen, um ins Paradies eintreten zu können. Man lehrte, das Akzeptieren der Martern als ein Akt der Liebe zu Gott und alle Arten von Buße und Strafe seien das Fegefeuer. So war es früher, jetzt nicht mehr. Jetzt sei die Kirche toleranter, sagte der Pater. Das Fegefeuer ist ein Warten, dessen Ende man nicht kennt.
    Ich erwiderte, alles habe ein Ende, selbst die Ewigkeit. Dieser Satz ist eine Banalität, und laut ausgesprochen erschien er mir noch banaler.
    Sie schüttelte den Kopf.
    Simón nicht. Er steht immer noch in der Tür zu meinem Zimmer. Ich weiß, dass er es ist. Ich soll ihn sehen und eintreten lassen. Ich weiß nicht, wie ich das tun soll.
    Es ist nicht er, der da steht. Es ist deine Liebe zu ihm, die dir keine Ruhe lässt.
    Eines Morgens ist Simón in Tucumán verschwunden. Seither sind schon dreißig Jahre vergangen, sagte sie. Bei meinen Eltern führte ich eine Zeit lang ein Leben, das mir normal schien.
    Manchmal erhielt sie Nachrichten von Leuten, die ihren toten Mann da oder dort gesehen haben wollten, wie er Karten zeichnete, als wäre nichts gewesen. Nichts erschien ihr seltsam. Auch sie hätte schwören können, er sei es gewesen, der auf den Tribünen der Landwirtschaftsausstellung oder inmitten der Besucher der Buchmesse fotografiert worden war. Er war ihr Gott, und wie der Gott in der Messe war er allgegenwärtig. Über kurz oder lang würde er zurückkommen. Man musste nur Geduld mit ihm haben. Aber sie konnte nicht umhin, sich zu ängstigen, wenn sie Nachricht erhielt von dem Leben, das er fern von ihr führte. Tagelang konnte sie dann nicht schlafen und hoffte, er möge jeden Moment anklopfen und ihr erklären, warum er verschwunden war, ohne ein einziges Wort zu sagen. Doch er kam und kam nicht, und die Sehnsucht, ihn zu umarmen, verließ ihren Körper. Allmählich schickte sie sich in die Einsamkeit und die Verlassenheit und hörte sogar auf, sich zu erinnern, wie es war, wenn sie sich weder einsam noch verlassen fühlte.
     
    Ich fragte sie, wo sie ihn gesucht habe: in Städten, Lokalen, Krankenhäusern, an Stränden. Während sie mir antwortete, widerfuhr mir etwas Unerklärliches. Es hat nicht die geringste Bedeutung für diesen Bericht, aber wenn ich es nicht erzähle, werde ich das Gefühl haben, nichts von dem, was an diesem Nachmittag geschah, sei wirklich. Doch es ist wirklich. Wir befanden uns wenige Häuserblocks vom Bahnhof entfernt. Immer wieder erreichten uns die Aufwehungen der Züge. Ich schaute durchs Restaurantfenster, und anstelle der grauen Silhouetten der gegenüberliegenden Häuser, des Ramschladens, der

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