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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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Dante-Übersetzung sie benutzte, und sie sagte es auch nicht. Aber was ich weiß, ist, dass sie es schaffte, sie so vorzutragen, als handle es sich um ein und denselben Dichter. Bei beiden, sagte sie, kann der Zustand von Seligkeit und Freude eine sehr viel ergreifendere Intensität annehmen als der Zustand des Leidens, im Gegensatz zu dem, was die Romantiker und die Symbolisten glaubten.
    In den anderthalb Stunden, die ich mit ihr verbrachte, war mir so wohl, war ich so erstaunt über die Gelehrsamkeit und Begeisterung, mit der sie von einem Thema zum anderen sprang, dass ich sie für den folgenden Samstag zu einem Kaffee im Starbucks von New Brunswick einlud. Als ich sie am Freitag in ihrem Büro bei Hammond anrief, um das Treffen zu bestätigen, bat sie mich, sie eine halbe Stunde vorher mit dem Auto abzuholen. Sie wolle mir etwas zeigen, sagte sie, und mir eine Geschichte anvertrauen.
    Sie erwartete mich auf der Veranda vor dem Haus. Sie trug Bluejeans und Joggingschuhe und hatte das Haar hochgesteckt. Erst im Licht dieses Vormittags bemerkte ich, dass ihre Augen etwas schlaff und die Lider schwer waren, als verberge sich die Hälfte ihres Wesens hinter dem abnehmenden Mond ihres Gesichts.
    Kennst du die Loews-Kinos in der First Street?, fragte sie.
    Natürlich, wer kennt sie nicht.
    Dann hast du sicher bemerkt, dass sich mitten auf dem Parkplatz ein Grab befindet.
    Das überraschte mich – ich wusste es wirklich nicht, obwohl ich das Auto immer dort abstelle, wenn ich mir einen Film anschaue. Manchmal fahre ich an Sommerabenden in die Nähe des Raritan und betrachte von oben auf dem Hügel seinen ruhigen Lauf und die Lichter am anderen Ufer, wo mein Haus steht.
    Was denn für ein Grab?, fragte ich.
    Komm, ich zeig es dir.
    Vor uns breitete sich der riesige Zementparkplatz hinter dem Kinokomplex aus. Ich parkte neben einer eingegitterten Konstruktion, so wenig wahrnehmbar wie die schräge Elf-Uhr-vormittags-Sonne. Hier war ich schon sehr oft vorbeigekommen, und immer hatte ich gedacht, es handle sich um ein Kontrollzentrum für die Klimaanlage oder die Elektroinstallationen der Kinosäle.
    Hier wurde Mary Ellis beerdigt, sagte sie. Die Legende besagt, dass sich unter ihrer Asche die ihres Pferdes befindet. Wenn du näher rangehst, kannst du ihren Grabstein sehen.
    Bei einer Dozentensitzung hatte ich einmal vage von Mary Ellis gehört, aber immer angenommen, es handle sich um eine imaginäre Figur aus einem unvollendeten Roman der Schwestern Brontë. Der detailliert gearbeitete Marmorkopf einer Frau mit Kraushaar und langer Nase in einem Tempelchen sowie die auf dem Grabstein eingemeißelten Daten ( 1773 – 1794 ) gehörten zu einem realen Menschen.
    In der Manuskriptbibliothek der Princeton University gibt es ein Tagebuch von Mary Ellis, sagte Emilia, als wir uns in den Sesseln des Starbucks in der George Street niederließen, beide vor einem Cappuccino. Laut den Registern hat sich keiner je die Mühe gemacht, es zu lesen. Die Angaben zu ihrer Kindheit, die ich einigen Lexiken von New Jersey entnommen habe, sind ungesichert, aber was sie über ihre Liebesgeschichte schrieb, ist so anrührend wie Cathy Earnshaws Geständnis in
Sturmhöhe
. Mary war, und das sagt sie mehr als einmal, der Mann, den sie liebte. Als Achtzehnjährige hatte sie sich mit einem jungen Leutnant namens William Clay verlobt. Sie war Waise, ohne Mitgift, und wohnte bei einer Tante väterlicherseits in New Brunswick. Ein- oder zweimal wöchentlich ritt sie zum Flussufer, um sich ungestört mit Clay zu treffen. Die Nachbarn munkelten. Als der Pfarrer der Presbyterianerkirche eine seiner Predigten den Paaren widmete, die das Schamgefühl verletzen und den Zorn Gottes herausfordern, wandten sich mehrere Gesichter anklagend zu ihr um, aber Mary fühlte sich nicht betroffen. Sie stand kurz vor der Eheschließung und war glücklich. Zwei Wochen vor der Hochzeit bestellte Leutnant Clay sie unverzüglich zu der kleinen Terrasse am Fluss, wo sie sich zu treffen pflegten. Dort verkündete er ihr, er sei soeben rekrutiert worden, um in Pennsylvania einen Farmeraufstand niederzuschlagen, und müsse noch am selben Abend aufbrechen. In einem Monat, sagte er, komme er sie holen, auf einem Segelschiff, an dessen Hauptmast ein gelber Überwurf flattern und das sich mit zwei Arkebusenschüssen ankündigen werde. Dann würden sie heiraten können. Zum Beweis seiner unverbrüchlichen Liebe hinterließ er ihr seinen wunderbaren, vom Vater geerbten Rappen. Es

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