Purgatorio
verging ein Monat, es verging ein weiterer. Nach Brunswick gelangten Nachrichten, der Aufstand sei in wenigen Stunden kampflos unterdrückt und den Truppen Urlaub gewährt worden. Seit sie das erfahren hatte, ritt Mary allabendlich mit dem Rappen auf den Hügel, der den Raritan beherrscht. Das Tagebuch setzt in dieser ersten Woche des Wartens ein und berichtet minutiös von den täglichen Zwei-Meilen-Ritten, der Landschaft unter dem Regen oder im Nebel und dem Herzweh, das sie beim Vorbeigleiten jedes Segelschiffs empfindet.
Ich weiß wenig von dir, sagte ich zu ihr. Ich kann mir nicht vorstellen, warum dich Mary Ellis so beeindruckt.
Da gibt es nichts vorzustellen. Unsere einzige Gemeinsamkeit besteht darin, dass keine von beiden den Mann wiedergesehen hat, den sie liebte. Zwei Jahre später erfuhr Mary, dass Leutnant Clay die Erbin einer Plantage in South Carolina geheiratet hatte. Dennoch ging sie weiterhin jeden Tag zu diesem Stelldichein mit niemandem am Fluss. Was sie von da an in ihr Tagebuch schrieb, war Gestammel. Sie verlor allmählich den Verstand. Im Herbst 1794 schwoll der Raritan auf historische Pegelstände an. Mary ritt zur Schlucht und sprang mitsamt dem Pferd in den Fluss hinunter, ohne auch nur eine Note der Erklärung zu hinterlassen.
Die war ja auch nicht nötig.
Man fand ihre Leiche auf der Höhe von Perth Amboy, in der Nähe der Mündung. Sie klammerte sich noch am Tier fest, die Füße steckten in den Steigbügeln. Kein Friedhof mochte sie aufnehmen, so dass gottesfürchtige Hände sie auf der Terrasse des Hügels beerdigten, zusammen mit dem Pferd. Da das Grab immer mit Blumen bedeckt war und die jungen Mädchen dort ihren Liebeskummer beichten gingen, erklärte der Gouverneur von Jersey die Parzelle für unantastbar. Mit den Jahren folgten einander dort eine Schweinezucht, Restaurants für Durchreisende und ein Flohmarkt. Jetzt sind hier die Kinos, und die Verliebten kommen nicht mehr her. Aber immer, wenn jemand vor dem Grab stehen bleibt, nimmt er das Bild einer Frau mit, die in Erwartung des geliebten Menschen den Horizont abspäht.
Das war also die Geschichte, die du mir erzählen wolltest, sagte ich.
Nein. Ich wollte dir Mary Ellis’ Grab zeigen, aber die Geschichte, derentwegen ich dich angerufen habe, ist meine eigene. Du hast gesagt, du weißt wenig von mir. Seit wir uns im Bagel Café getroffen haben, habe ich gedacht, ich würde dir gern ein wenig mehr erzählen. Aber ich weiß nicht, ob wir jetzt Zeit haben. Es ist schon zwölf. Du musst zur Uni zurück.
Ich habe Zeit bis zwei Uhr.
Ich lud sie ein, im stillen, diskreten Restaurant Toscana einen Salat zu essen. Und sogleich bereute ich es. Emilia redete wie ein Sturzbach, mit der Verzweiflung eines Menschen, der viel Zeit allein verbringt. Ich fürchtete, mich zu langweilen.
Es war Wind aufgekommen, und auf den Gehsteigen der George Street spazierten einige wenige müßige Studenten und Ladenangestellte, deren Schicht zu Ende war. Wie so oft befiel mich die Melancholie, außerhalb meines Landes zu sein, in einem verlorenen Nest, in dem sich nichts ereignete.
In weniger als zehn Minuten schilderte Emilia die trivialen Details ihrer Freundschaft mit Nancy Frears und die Leere ihrer Wochenenden, das ewige Bingospielen, die sonntägliche Messe und die Besuche im Friseursalon. Sie sagte, ihr hätten die Bücher und die Filme das Leben gerettet. Und manchmal habe sie Angst, einen Nervenzusammenbruch zu erleiden wie Mary Ellis.
Mehr als einmal bin ich mitten in der Nacht mit dem Gefühl erwacht, mein Mann befinde sich im Zimmer.
Das ist nichts Ungewöhnliches, das passiert uns allen. Wir träumen, und beim Erwachen harrt der Traum noch ein wenig bei uns aus.
Nein, es ist viel realer. Ich spüre, dass Simón in der Tür zu meinem Zimmer steht und sich nicht einzutreten getraut.
Weil du ihn nicht tot gesehen hast. Das ist ein guter Grund.
Wer weiß. Ein Gericht hat ihn für tot erklärt, und ich habe alles getan, um ihn in meinem Inneren zu töten. Da er kein Grab hat, war ich sein Grab. Jetzt will er da raus.
Du solltest ihm ein Grab kaufen, und sei es ein symbolisches. Irgendwo hinterlassen, was du von ihm noch hast.
Ich habe keine Kleider oder sonstigen Gegenstände von ihm mehr, bloß noch ein Foto und den Ehering. Und die zu verscharren habe ich nicht vor.
Vielleicht ist der Moment gekommen, wo du ihn gehen lassen solltest.
Seit Jahren unternehme ich alles Mögliche und Unmögliche, damit er geht. Auf der Flucht vor
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