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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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zurückzogen, hörte man die Gebete des Riesen die Osterfeierlichkeiten, die
Bar-Mizwa
-Feiern und den Lärm der Fernsehapparate überdröhnen. Kommt aus euren Schlupfwinkeln und berührt mich!, schrie er. Ich bin kein Geist, denn ein Geist hat weder Fleisch noch Blut, ich aber schon, wie ihr sehen könnt! Es ist unmöglich, dich nicht zu sehen, du Dickwanst, wurde ihm aus den Häusern geantwortet. Jetzt reicht’s, ab in die Heia!
    Allmonatlich wurde die Bürgermeisterin zwei- oder dreimal aufgefordert, Large Lenny in ein Heim zu sperren. Sie tat es nicht, da sein Unterhalt fürs Gemeindebudget zu kostspielig war und seine Gänge durch die Main Street die Touristen aus Princeton und Metuchen anzog. Vielleicht hat Large Lenny nicht alle beisammen, sagte Nancy. Aber er ist harmlos wie ein Schmetterling.
    Ich ging vor Einbruch der Dunkelheit, als mich Nancy zu überzeugen versuchte, dass mit Geduld beim Bingo und im Lotto ein Vermögen zu gewinnen wäre. Mittlerweile hatte ich Emilia so weit, dass sie mir leihweise einige Folien mit von ihrem Mann gezeichneten Kartenfragmenten überließ.
    Während sie mich zur Haustür brachte, fragte sie, ob ich mir vorstellen könnte, ab und zu mit ihr auszugehen und uns zu unterhalten. Ich kann mich schon gar nicht mehr erinnern, wann ich zum letzten Mal eine argentinische Stimme gehört habe, sagte sie. Ich versprach, sie anzurufen, sozusagen aus Pflichtgefühl. Eine Woche später begegnete ich ihr im Eingang vom Bagel Dish Café neben der Apotheke, und da ich nichts Besseres zu tun hatte, willigte ich ein, uns zu setzen. Wenn Nancy nicht dabei war, gab sich Emilia so, wie sie war: ein nüchtern denkender Mensch, der sich über die Tragödien der Welt Sorgen machte. Sie hatte eben Philip Roths Roman über Charles Lindbergh gelesen und erbot sich, mir das Haus zu zeigen, wo der Sohn des Nationalhelden 1932 entführt worden war. Wenn du willst, duzte sie mich, kann ich dich einem sehr netten Greis vorstellen, der dort wohnt. Er glaubt, er sei das verlorene Kind, und benimmt sich auch so, als sei er es. Wie ein Kind?, fragte ich. Wie ein zwanzig Monate altes Baby, sagte sie. So alt war er, als man ihn entführte.
    Als mir Emilia ihr Leben zu erzählen begann, schrieb ich an einem Roman über Buenos Aires, und das Letzte, was ich mir wünschte, war, etwas Verwirrendes zu hören – jede fremde Erinnerung löste eine intime eigene in mir aus, die mich vom Weg abbrachte. Aber es war schwierig, mich dem Geschick zu entziehen, mit dem sie das Netz ihrer Geschichte spann, in gemessenem, vertraulichem Ton, der andeutete, dass sie sonst mit niemandem teilte, was sie in diesem Augenblick erzählte. Manchmal, wenn ich die Augen schloss und der Schilderung folgte wie ein Segelschiff dem Wind, hatte ich das Gefühl, mit einem guten Roman allein zu sein, denn wie Somerset Maugham (von dem sie mindestens zehn Bände der Reihe Penguin-Klassiker besaß) beherrschte Emilia die Kunst, das Wesentliche wegzuzaubern, um es dann beiläufig einzustreuen.
    Sie war eine gierige Leserin und hatte eine alles andere als träge Intelligenz. Sie kannte die Ähnlichkeiten zwischen Kafkas ersten Werken und Flauberts
Erziehung des Herzens
aufs Genaueste und beschrieb mir bis in alle Einzelheiten die Erkenntnisse des kolumbianischen Professors Guillermo Sánchez Trujillo, der jahrelang den Einfluss von
Verbrechen und Strafe
auf den
Prozess
studiert und dann statuiert hatte,
Der Prozess
sei eine geschickte Intrige, dank der Kafka den Bruch seiner Verlobung mit Felice Bauer anhand von Personen und Situationen erzählen konnte, die unverändert von einem Buch ins andere wanderten. Die Zeit zerrann uns, indem wir mit Anekdoten ohne Hand und Fuß vom Hundertsten ins Tausendste kamen, aber es spielte keine Rolle, schließlich waren wir einzig dazu hier, uns über Dinge zu unterhalten, über die wir sonst mit niemandem im Ort sprechen konnten. Zu dieser Verzettelung steuerte ich mein eigenes Geschwätz bei, indem ich wie beiläufig und ohne direkten Zusammenhang Dantes Einfluss auf die Dichtung des reifen Borges erwähnte, der mir offensichtlich schien. Ich schickte mich eben an, meine Argumente darzulegen, als mir Emilia mit der Rezitation langer Teile aus
Hölle
und
Fegefeuer
ins Wort fiel, die sie unmerklich mit Versen aus
Der Andere, der Selbe
und
Lob des Schattens
verwob, zwei Sammlungen, die Borges kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag veröffentlicht hatte. Ich konnte nicht erraten, welche spanische

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