Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
Vom Netzwerk:
würde von Simón sprechen.
    Dich hat niemand angeklagt. Dein Mann war verschwunden. Du warst ein Opfer.
    Nein, mich hat niemand angeklagt. Ich habe mich selber angeklagt, weil ich blöd, leichtgläubig und – auf meine Weise – auch mitschuldig gewesen war. Das Gewissen ließ mich nicht in Ruhe. Mein Vater ließ mich nicht in Ruhe. Er stand neben meinem Bett, tätschelte meine Schulter, strich mir übers Haar. Nie hatte er mich wahrgenommen, aber jetzt behandelte er mich allzu vertraulich, wenn wir allein waren. Schließlich empfand ich Ekel vor ihm, Mitleid und Ekel. In Rio hatte ich nichts mehr zu tun, und ich vermisste meine Mutter. Ich wollte wieder nach Buenos Aires, um sie zu pflegen. Ich erkundete die Fahrpläne der Busse, die die Strecke damals in zwanzig Stunden zurücklegten, und gedachte so bald wie möglich aufzubrechen, als eines frühen Morgens aus Caracas eine Unbekannte anrief und mich fragte, ob ich eine Verwandte von Simón Cardoso sei. Ich bin seine Frau, antwortete ich. Da spricht Schwester Coromoto von der Klinik La Trinidad, sagte sie. Ihr Mann ist vor zwei Stunden mit einem Krankheitsbild von paroxismalem Vorhofflimmern in die Notaufnahme eingeliefert worden. Wir haben ihn bereits intravenös digitalisiert. Ich verstehe kein einziges Wort, unterbrach ich sie. Sie verstehen nicht? Simón Cardoso zeigt ernsthafte Herzrhythmusstörungen. Er braucht Betreuung rund um die Uhr und bezeichnet sich als zahlungsunfähig. Wenn niemand die Kosten übernimmt, werden wir ihn in ein öffentliches Krankenhaus überweisen müssen, und dort kann er dann sehen, wo er bleibt. Die Stimme der Schwester war rau, gebieterisch, brutal. Ich bat sie, Simón achtundvierzig Stunden in der Klinik zu behalten. Ich werde kommen und mich um alles kümmern, sagte ich, obwohl ich nicht wusste, wie. Ich kannte Caracas ja gar nicht. Auch hatte ich kein Geld mehr, und meinen Vater mochte ich nicht anrufen.
    Du musst verzweifelt gewesen sein.
    Ja, und ich konnte an nichts anderes denken als an die Reise. Nach dem Auflegen weinte ich. Seit Huacra waren sieben Jahre vergangen, und endlich begann sich diese blinde Zeit zu füllen, Richtung und Sinn zu bekommen. Um fünf Uhr früh ging ich zum Flughafen Galeão und erkundigte mich an sämtlichen Schaltern nach dem schnellsten Flug nach Caracas. Ich entdeckte eine Verbindung um elf Uhr ab Rio über Bogotá und kaufte ein Ticket mit der Kreditkarte, die ich noch nie benutzt hatte und von der ich nicht wusste, wie sie auszugleichen war. Kaum öffneten die Banken, hob ich meine letzten dreihundert Dollar ab. Da entdeckte ich, dass ich fünftausend hatte. Wieder mein Vater. Früher oder später würde er sie zurückhaben wollen, aber mir war mittlerweile egal, wie.
    Er wusste also, dass du fahren würdest?
    Nein. Seit Monaten zahlte er auf mein Sparkonto geringe Beträge ein, um die ich ihn nicht gebeten hatte. Das tat er, ohne zu fragen, wie immer. Für ihn war ich nur ein Gebrauchsgegenstand. Caracas verwirrte mich. Ich fühlte mich ebenso fremd, wie wenn ich nach Luanda oder Nauru gekommen wäre. Im Stadtzentrum sprach ein Schwarm fliegende Händler und Büroangestellte auf dem Mittagsbummel eine lautmalerische Sprache, die von spanischen Brocken bloß durchsetzt war. Ich fragte in Reisebüros, in Cafeterias und unzähligen Billigläden, wo sich die Klinik befinde, und überall nannte man mir meilenweit auseinanderliegende Siedlungen: Antímano, Boleíta, El Silencio, Propatria. Es schien ein so ungreifbarer Ort zu sein, dass ich an seiner Existenz zu zweifeln begann. Ich nannte La Trinidad, und eine Kurzwarenangestellte sagte, dort habe sie eine riesige Klinik für Infektionskrankheiten gesehen. Ich beschloss, es zu wagen. Ich hielt ein Taxi an, aber es weigerte sich, mich hinzubringen, und das wiederholte sich bei weiteren vier oder fünfen. Sie beklagten sich, das sei zu weit entfernt und führe über düstere Hügel. Als ich die Fahrt doch endlich antrat, wurde ich mir der Gefahr bewusst. La Trinidad ist etwa fünfzehn Kilometer von der Plaza Mayor entfernt, am Ende eines Gespinsts kurvenreicher, steiler Straßen, neben denen sich ein Abgrund auftut. Der Motor des Taxis hustete und stotterte, schaffte es dann aber doch. Als wir ankamen, war es beinahe Mitternacht. Eine Nachtschwester erbarmte sich meiner und studierte im Computer die Ein- und Austritte. Simón Cardosos Name erschien nicht in den Listen der letzten Jahre.
    Ein Schwindel, wie in Rio.
    Das dachte ich damals nicht.

Weitere Kostenlose Bücher