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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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Ich wusste ja nicht einmal, dass Rio ein Schwindel war. Ich hatte seit Stunden nichts gegessen und verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, fragte ich nach Coromoto. Die einzige Angestellte dieses Namens war eine Hilfsbuchhalterin. Ich vermutete, mich im Krankenhaus geirrt zu haben. Das war das Logischste. Warum sollte sich jemand die Mühe machen, früh morgens aus Caracas anzurufen und mir die einzige Lüge zu erzählen, die mich zwingen konnte, Rio zu verlassen?
    Wieder dein Vater. Weißt du, warum er das tat?
    Nein. Vielleicht, um mich zu peinigen, um sich mich vom Leib zu halten. Er traute mir nicht über den Weg.
    Wie ich Emilia im Toscana so hörte, hatte ich das Gefühl, drei Frauen in ihr zu sehen: Eine erzählte mir in ernstem Ton von ihren erlittenen Tragödien, entwürdigt vom unheilverkündenden Schatten des Vaters, aber zugleich bewusst, dass sie sich nicht unterkriegen lassen, dass keine dunkle Kraft oder Macht ihren Überlebenswillen brechen würde. Eine zweite stand im Bann ihrer aufgeklebten Fingernägel mit den violett-weißen Rhombenmustern, die die Hände unglaublich vulgär erscheinen ließen. Und die dritte, vielleicht komplementär zu den beiden anderen, wenn auch viel weniger zur zweiten, konnte mit großem Verstand Gedichte von Gonzalo Rojas, John Ashbery und Marianne Moore wiedergeben, deren Bestiarium sie mit in die Länge gezogenen Vokalen zitierte, um sie so von der Wirklichkeit abzutrennen und bloß zu dem zu machen – zu Worten eben:
Wir bewundern nicht, was wir nicht verstehen können, die Fledermaus, einen unermüdlichen Wolf unter einem Baum.
    In Caracas kann man sich leicht verirren, sagte ich. Als ich dort lebte, gab es mehrere Krankenhäuser und Siedlungen namens La Trinidad: Lomas de la Trinidad oder Hacienda de la Trinidad, Trinidad Santísima.
    Das habe ich in den darauffolgenden Wochen allmählich herausgefunden. Ich habe in Chacaíto eine spottbillige Wohnung gemietet, dem einzigen Ort der Stadt mit Bürgersteigen und Cafés. Jeden Morgen gegen sieben machte ich mich auf meine Wallfahrt durch Krankenhäuser und Kliniken auf der Suche nach Simón. Nicht immer wurde mir geholfen. Es war kurz vor Weihnachten, und niemand war scharf darauf, sich Unglücksgeschichten anzuhören. Ich erzählte den Schwestern und Ärzten, was mir widerfahren war, und sie beachteten mich kaum. Vor mir hatte es schon Tausende Argentinier mit ähnlichen Geschichten nach Caracas getrieben. Nach einigen Wochen kam ich auf die Idee, Anschläge mit Simóns Foto zu machen und sie an die Kioske von Sabana Grande zu kleben, für den Fall, dass ihn jemand erkannte. Die wenigen Personen, die antworteten, verlangten, dass ich Geld mitbringe und allein erscheine. Es waren voraussehbare Schwindel. Auf einige fiel ich herein, und meine Mittel gingen langsam zu Ende.
    Du hättest arbeiten können. Damals war es möglich, eine Arbeit zu finden.
    Ich bewarb mich als Kartographin bei der venezolanischen Petroleumgesellschaft, wo man mir die seltsame Aufgabe zuteilte, den labyrinthischen Wegen der Hügel, die um die Stadt herum ein Amphitheater bilden, Namen zu geben. Jeden Vormittag ging ich nicht enden wollende Treppen hinauf und verlor mich dann in Gässchen, die zu kleinen Weinlokalen, Schreinereien, Kartonlagern führten, merkte mir die Spitznamen, mit denen sie bereits von den Leuten getauft worden waren und die gemeinhin an Personen des Ortes erinnerten: Iván der Lügner, Nasser Schwanz, Grüne Möse, die Muschelzange und so fort. Wo es nur punktierte Linien oder das Gerippe eines unbekannten Verkehrssystems gab, sammelte ich ein ganzes Wortgewirr. Ich teilte meine Zeit zwischen diesem Verrücktenjob und der Suche in den Krankenhäusern auf. Ich spürte, dass Simón meinen Händen entglitt, aber nachts, kaum war ich eingeschlafen, sprang er in meinen Traum herein. Ich las viel Swedenborg und nahm seinen Gedanken wie ein Bibelwort, wir Menschen seien nur eine Chiffre, ein Zug in der Schrift Gottes, was uns erlaubt, andere zu sein und uns überall zu befinden, wenn Gott beschließt, dass seine Schrift etwas anderes bedeutet. Mehr als einmal sah ich in der Kinemathek von Caracas Hitchcocks
Vertigo
, wo Kim Novak ein so weltlicher Geist ist, dass man ihren Tod genau darum hinnimmt, weil es sich um ein Oxymoron handelt. Aber die wirkliche Leiche dieses Films ist James Stewart, der zweimal die geliebte Frau verliert. Ich mochte nicht Stewart sein, ich wollte nicht ein zweites Mal Simóns Verlust erleben.

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