Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
sich nur Jacob Cohn nannte, ohne es wirklich zu sein, dann wäre das geradezu ein Trost. In dem Fall müsste sie wenigstens nicht immerfort daran denken, dass jemand aus ihrer eigenen Familie ein Komplott gegen sie erdacht und für Tod, Schrecken und Grauen gesorgt hatte.
Nur zögernd, als ahne sie das Kommende voraus, nahm sie den nächsten Brief zur Hand.
Antwerpen, den 13. März 1507
Mein liebes Kind, Du bist nun erwachsen und kennst bereits die Stärken und Schwächen der Menschen. Ich hoffe jedoch für Dich, dass Dir das Böse in Menschengestalt niemals begegnen möge. Ich hingegen muss hier Zeugnis ablegen gegen Joaqim Valverde aus Granada, der zum Mörder wurde und meine Familie zerstörte.
Keine sorgfältige, saubere Schrift mehr, jetzt hatte die Mutter offenbar in Eile geschrieben. Und diese verschmierten Stellen auf dem Papier waren wohl Spuren von Tränen, die ihr beim Schreiben auf das Blatt getropft waren. Hatten sie die Erinnerungen übermannt? Hastig begann Mirijam zu lesen.
Wir versteckten uns tagsüber, wenn möglich in Höhlen oder in abgelegenen Schluchten und Tälern. Dort konnten wir ausruhen und oft sogar ein Feuer entzünden, um uns zu wärmen und etwas zu kochen. In den Nächten aber schlichen wir querfeldein oder auf einsamen Pfaden durch das Land. Eines Abends, kurz vor der Stunde unseres Aufbruchs, wollte ich Ibrahim dabei helfen, die Hufe der Reittiere mit Stoff zu umwickeln, damit sie kein allzu lautes Geräusch machten. Statt Ibrahim fand ich jedoch unseren Führer Joaqim Valverde, der sich hinter einem Baum versteckte und Onkel Jacob ausspähte. Der teilte soeben, wie mit den Eltern verabredet, das gemeinsame Vermögen in zwei gleiche Teile und verbarg seinen Anteil unter seiner Kleidung und in seinem Gepäck.
Er wollte nach Norden, um auf dem Landweg nach Frankreich oder Flandern zu ziehen. Wir hingegen würden weiterhin nach Westen reiten, um an der portugiesischen Küste ein Schiff zu nehmen, das uns nach England in Sicherheit brachte.
Ich schwöre, was dann geschah, ist die reine Wahrheit! Mit eigenen Augen sah ich das Entsetzliche!
Joaqim schlich sich von hinten an den Onkel heran, warf ihm eine garotte , eine Drahtschlinge, um den Hals und erdrosselte ihn. Anschließend zog er ihn in eine Senke, bedeckte ihn mit Steinen und Laub, dann nahm er sein Gold und die anderen Wertsachen an sich. Zum Schluss täuschte er einen Kampfschauplatz vor, indem er den Boden zerkratzte, seine Kappe und den zerrissenen Umhang ins Gebüsch warf und einige Zweige von den Büschen brach. Danach schnappte er sich unsere Pferde und Maultiere mitsamt dem Gepäck und ritt davon. Ibrahim blieb verschwunden, und ich bin überzeugt, Joaqim hat auch ihn auf dem Gewissen.
Wir besaßen nun keine Pferde mehr, keine Maultiere und auch kein Gepäck. So setzten wir unsere Flucht zu Fuß fort. Wir gingen in die Richtung, in der wir die portugiesische Grenze vermuteten. Rebecca hatte Fieber und jammerte, und wir mussten aufpassen, nicht von christlichen Soldaten entdeckt zu werden. Vater trug Rebecca, sie weinte, manchmal fiel sie auch in eine Art Delirium. Plötzlich hörten wir das Klirren von Metall und das Stampfen von Pferden und sahen schwankende Blendlaternen auf uns zukommen. Es war eine Patrouille von acht Berittenen, mit Piken und Kurzschwertern bewaffnet. Wir verbargen uns im Gebüsch und wagten es nicht zu atmen. Da wimmerte Rebecca auf einmal laut. Die Soldaten kamen näher. Wir glaubten schon, jetzt sei alles aus. Jeden Augenblick mussten sie uns entdecken! Vater wiegte Rebecca und presste sie eng an seine Brust, um ihr Weinen zu unterdrücken. Die Soldaten bemerkten uns nicht. Als sie vorübergeritten waren, war Rebecca tot. In dem verzweifelten Bemühen, seine Familie zu beschützen, hatte Vater sie erstickt.
Mirijam schlug die Hände vors Gesicht. Es dauerte lange, bis ihre Tränen versiegten und sie sich gefasst hatte. Starr vor Entsetzen las sie den Brief zu Ende.
In Portugal versteckten und versorgten uns andere Juden, bis ein Schiff gefunden war, das uns nach England brachte. Aber auch dort fand unsere Familie keinen Frieden. Mutter erholte sich nie wieder von dem erlebten Grauen, sie zerkratzte sich in einem fort das Gesicht und zerriss ihre Kleider. Und Vater sprach nicht mehr, kein einziges Wort, bis zu seinem Lebensende. Beide starben im Irrenhaus. Ich kam derweil in eine mildtätige Familie und wurde gemeinsam mit den Kindern des Hauses erzogen.
Hiermit verfluche ich Joaquim
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