Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
wunderbar Geschichten erzählen konnte. Sein Gesicht wurde leider durch ein großes Feuermal entstellt, das sich über seine ganze rechte Gesichtshälfte zog. Dadurch hatte er sozusagen zwei Gesichter: ein helles und eines, das Angst machte. Vermutlich fand er deshalb keine Frau und lebte in unserem Hause.
An diesem Abend lag auf dem Tisch eine Bekanntmachung aus Toledo, die uns allen Angst einflößte. Ich will die Worte nicht wiederholen, damit der abgründige Hass, der aus ihnen spricht, nicht in mich sickern kann. Aber ich füge das Blatt hinzu, damit Du, mein liebes Kind, weißt, was ich meine.
Der Zettel lag vor Mirijam auf dem Tisch. Das Papier war vergilbt, zerknittert und an einigen Stellen eingerissen, doch obwohl auch die Tinte verblasst und seltsam rostig aussah, war der Text noch komplett zu entziffern:
IN NOMINE DOMINI Nostri Jesu Christi
Wir erklären hiermit, dass die so genannten conversos , Nachkommen verderbter jüdischer Ahnen, von Rechts wegen für niederträchtig und gemein erachtet werden müssen, für ungeeignet und unwürdig, innerhalb der Grenzen der Stadt Toledo und seiner Gerichtsbarkeit ein öffentliches Amt zu bekleiden oder ein Lehen zu erhalten oder Eide oder Urkunden zu beglaubigen oder sonst welche Machtbefugnisse über wahre Christen der Heiligen Katholischen Kirche auszuüben.
Gegeben zu Toledo im Jahre des Herrn 1490
Der Zettel hatte einmal ein Siegel getragen, man sah noch die Wachsspuren. Und unter dem Siegel stand: Großinquisitor für die Königreiche Kastilien und Aragon.
Welche Feindseligkeit und Unerbittlichkeit aus diesen Worten sprach!
Der Erlass war zwei Jahre, bevor die Cohns flüchteten, ergangen, überlegte Mirijam. Vermutlich hatte es bald darauf in Granada vergleichbare Veröffentlichungen gegeben, die ähnlich hasserfüllt klangen.
Warum nur hatte der Vater so wenig von ihrer Mutter erzählt? Das Einzige, was er regelmäßig zum Ausdruck brachte, war die große Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter. Immer wieder hatte er kopfschüttelnd zu ihr gesagt: » Wie Lea! Du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten!« Wenigstens Gesa hatte ihr einmal erzählt, ihre Mutter habe sie nicht nur als Wiegenkind, sondern auch später ständig mit sich herumgetragen, habe ihr Lieder vorgesungen, jeden ihrer Schritte bewacht und sie wie ihren Augapfel gehütet, bis wenige Tage vor ihrem Tod.
Wie schon oft versuchte Mirijam sich vorzustellen, wie es sich angefühlt haben mochte, von warmen, mütterlichen Armen gehalten und getragen zu werden. Plötzlich spürte sie die große Lücke in ihrem Leben so schmerzhaft wie noch nie zuvor, und sie sehnte sich nach einer Mutter, nach Trost und Liebe, nach Verständnis und Anteilnahme.
Mirijam schob den Zettel beiseite, um ihn später ihrem Abu zu zeigen, und wandte sich wieder dem Brief zu. Sie wollte wissen, was weiterhin geschehen war und wie sich die Familie in Sicherheit gebracht hatte.
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Antwerpen, den 12. März 1507
Mein liebes Kind, nach einem Tag Pause fahre ich heute fort.
Die Kapitulation stand unmittelbar bevor, und obwohl es niemand aussprach, wussten wir, unser Leben war in Gefahr. Seit Wochen kursierten bereits Gerüchte in der Stadt, alle Juden und Muslime müssten sich zum Christentum bekehren und taufen lassen, andernfalls sollten ihre Besitztümer der Kirche zufallen und sie selbst aus der Stadt vertrieben werden. Denjenigen aber, die nach der Taufe heimlich an ihrem alten Glauben festhielten, weiterhin koscheres Essen bereiteten und den Shabbat einhielten, drohte die Folter durch die Inquisition und nachfolgend der Scheiterhaufen. Spitzel liefen bereits jetzt durch die Stadt und spähten durch die Fenster! Und welche Sicherheit gab die Taufe, nach dem, was der Erlass aus Toledo besagte?
Vaters Geschäfte gingen schon lange nicht mehr gut. Getreide und Gemüse waren knapp in diesem Winter, da die feindlichen Truppen zur Erntezeit die Felder angezündet hatten, und die Preise stiegen. Nur Fleisch gab es billig, da man Tausende Stück Vieh geschlachtet hatte, um es den Raubzügen der königlichen Soldaten zu entziehen. Die Straßen waren nicht mehr sicher. Überall in der Stadt klebten Zettel an den Mauern, auf denen es hieß, die Juden seien mit dem Teufel im Bunde. Besonders gefürchtet war der neue Großinquisitor Tomás de Torquemada. Mag er auch vergessen haben, dass er selbst ein converso war mit einer jüdischen Großmutter, die Juden Granadas werden sich immer daran erinnern! In Toledo und
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