Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
als die Mutter im Kindbett starb? Ihr leibliches Kind, einen Jungen, der bei seiner Geburt nicht hatte atmen wollen, hatte sie über ihrer Liebe zu diesem mutterlosen Wesen inzwischen fast vergessen. Ebenso wie ihren Ehemann, einen friesischen Fischer, den sich bei einem Sturm die See geholt hatte. Gott sei ihrer Seelen gnädig, betete sie.
Auch das zweite Kind im Haus hatte sie aufgezogen. Pflichtbewusst und fürsorglich, wie es christliches Gebot war, hatte sie sich um das kleine Mädchen gekümmert und es an nichts fehlen lassen. Und auch dieses Kind hatte sie lieben gelernt. Wie flink und mutig die Kleine war, und wie weich und zärtlich Lucia. Aber wie garstig sie manchmal auch sein konnte! » Gesa, hol mir dies, bring mir das. Ich brauche Mutters Straußenfedern. Wo sind meine Haarbürsten und Armreifen? Näh das fest! Gesa, wo bleibst du? Gesa, das hättest du längst erledigen sollen!«
Mirijam dagegen half sich selbst oder äußerte höchstens mal eine Bitte. Lucia hingegen … War sie zu nachsichtig mit ihr gewesen? Während Lucia viel Zeit mit Träumereien, mit Kleidern, Puppen und Freundinnen zugebracht hatte, hatte sich die kleine Mirijam häufig in den unteren Räumen und im Hof aufgehalten, eigentlich war sie dort sogar großgeworden. In der Küche hatte sie ihre ersten Schritte getan, direkt in die Arme des alten Claas, und bereits mit drei musste dieser sie auf den Rücken einer Stute setzen, weil sie unbedingt reiten lernen wollte …
Wo sie jetzt sein mochten? Beim Abschied hatte Lucia außergewöhnlich blass ausgesehen, und in Mirijams Augen hatten Tränen geglänzt. Heilige Mutter Maria, beschütze und behüte sie, Amen. Sie kniete auf dem Boden, senkte den Kopf und betete lange. Als sie sich schließlich wieder erhob und die steifen Knie rieb, war das Herzrasen vorüber, und keine Stimme schrie in ihrem Kopf mehr » Unrecht!« oder » Schande!«. Die Dunkelheit und Stille und der Trost des Gebets in der großen Kirche hatten nicht nur den Schmerz der Erinnerung gemildert, sie wusste jetzt auch ihren nächsten Schritt. Und der würde sie nicht ins Wasser führen, oh nein. Stattdessen waren ihr die Beginen in den Sinn gekommen. Bei ihnen würde sie um Obdach nachsuchen.
Zum Glück hatte sie ein wenig Geld gespart. Und sie konnte arbeiten, weiß Gott, das konnte sie. Außerdem waren die Beginen nicht nur fromme Frauen. Die meisten waren klug und gebildet, viele von ihnen stammten sogar aus einflussreichen Familien. Vielleicht fand sich unter ihnen eine, der sie von dem unrechten Verhalten des Advocaten erzählen und die ihr einen Rat geben konnte. Gesa richtete ihre Haare, rückte die Haube gerade und griff nach ihrem Bündel.
12
Warum stand Muhme Gesa mit einer Kerze vor dem Bett? War es etwa schon Zeit aufzustehen? In diesem Moment schrie Mirijam auf. Sie kroch ans Kopfende ihres Lagers und zog die Beine dicht an den Leib. Nicht die gute Gesa, sondern einer der rot gewandeten Piraten stand vor ihr und grinste sie aus seinem bärtigen Gesicht an. Hinter ihm lugte das Gesicht des Jungen hervor. Er sagte etwas in seiner Sprache, vermutlich sollte es beruhigend klingen. Mirijam jedoch schrie weiter. Sie konnte nicht anders. Sie schrie und schluchzte, konnte die Gewalt über sich nicht wiedererlangen.
Eilig stellte der junge Pirat Wasser und Brot auf den Boden ab und griff nach ihrer Hand. » La!«, sagte er und schüttelte dazu vehement den Kopf. » La, nein!« Eindringlich sprach er auf sie ein mit Worten, die sie nicht verstand. Doch halt, hatte er nicht gerade Hakim gesagt? So nannte sich der maurische Arzt.
» Hakim?«, fragte sie mit zitternder Stimme nach.
Der Junge nickte, begeistert, dass wenigstens dieses Wort zu ihr durchgedrungen war, und lächelte. Dazu hielt er ihre Hand fest. Seine Hände, die rau und schwielig waren und zu einem ihrer Feinde gehörten, wollten ihr offensichtlich nichts als Trost spenden. Ein Pirat mit einem weichen Herzen?
» Hakim Mohammed?«, fragte sie noch einmal, um ganz sicherzugehen. Wieder nickte der junge Pirat. Langsam gelang es Mirijam, sich zu beruhigen. Der Junge redete weiter, doch sie verstand nichts mehr. Daher reichte er ihr den Wasserkrug, deutete auf das Brot und nickte ihr aufmunternd zu, bevor beide Männer die Kajüte wieder verließen. Zitternd nahm sie einen Schluck von dem wohlschmeckenden Wasser und benetzte auch die Lippen und Stirn der schlafenden Lucia. Dann legte sie sich neben sie, mit dem Kopf auf Lucias Schulter.
Als sie das
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