Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
nächste Mal erwachte, hatte der Wind aufgefrischt, und das Schiff rollte von einer Seite auf die andere. Die Böen waren stärker als zuvor, und Brecher krachten gegen die Bordwände.
Kam nun das Ende? Herz und Kopf waren wie gelähmt, sie konnte weder denken noch fühlen. » Keine Angst, Lucia, ich bin hier, nahe bei dir«, flüsterte sie der Schwester ins Ohr. » Ich halte dich. Soll ich dir ein Lied singen? Welches möchtest du hören? Das von den Lämmchen auf der Wiese?«
Mit einer Hand hielt sie Lucia, mit der anderen suchte sie Halt an der Koje. Die Laterne schwankte hin und her und schlug gegen die Decke der Kajüte, bis sie irgendwann erlosch. Mirijam aber sang. Sie sang von den weißen Lämmchen auf der Frühlingswiese voller Butterblumen, wie sie munter umhersprangen, Fangen spielten und die milde Sonne genossen. Sie sang von den Lerchen, wie sie in den hellen Himmel aufstiegen und sich mit dem schönsten Lied im Schnabel wieder zu Boden fallen ließen. Zuerst leise, doch irgendwann dachte sie weder an die Piraten noch daran, dass sie vielleicht bald sterben mussten, und ihre Stimme wurde stärker. Ihre Lieder trugen sie nach Hause.
Solch wunderbare Tage wie in den Liedern hatte es auch für sie gegeben. Einmal war Cornelisz dabei gewesen, und seine Locken hatten wie Gold geglänzt. Damals stand die Sonne an einem wolkenlosen Himmel, und in den Apfelbäumen summten die Bienen. Heute hielt sie ihre arme Schwester in den Armen und sang allein für sie. Zur Sicherheit hatte sie sich quer in Lucias Koje gelegt, damit sie bei dem starken Seegang nicht herausfielen. So sang und summte sie vor sich hin, dachte dabei an Gesa und Vater, an Cornelisz und die Kontorschreiber, an den Hafen und die grünen Deichwiesen der Schelde. Sie sang und wiegte die schlafende Lucia, bis ihr die Kehle wehtat. Langsam drang das erste Morgenlicht durch das kleine Fenster in die Kammer. Rollte das Schiff wirklich nicht mehr so sehr von einer Seite zur anderen, oder bildete sie sich das ein? Ließ der Wind nach?
Einer der Piraten stieß die Tür auf. Er brüllte etwas und warf ihnen formlose Gewänder und Tücher hin. Prompt erwachte Lucia und setzte sich auf.
» Endlich!«, rief Mirijam lachend und sprang überglücklich auf die Füße. » Du bist wach, und du hast das Gift überlebt!« Sie fasste Lucias Hände. » Lucia, liebste, beste Lucia, sag, wie fühlst du dich? Wie geht es dir?« Lucias Blick irrte durch die Kajüte. Sie schien noch vom Schlaf umfangen zu sein.
» Hörst du mich? Ich bin es, Mirijam. Ich bitte dich, sag etwas. Sprich mit mir.«
Lucia schwankte, sie leckte sich die Lippen. » Wasser«, flüsterte sie. Eilig gab Mirijam ihr zu trinken. » Warum wackelt das Zimmer, und warum bist du so schlampig gekleidet?«
Ach, das war ihre Lucia! Am liebsten hätte Mirijam vor Freude gejubelt. Stattdessen sprudelte es aus ihr heraus: » Weißt du nicht mehr? Wir sind doch auf dem Schiff, deshalb schwankt unsere Kajüte. Die Piraten haben die Palomina gekapert, und wir mussten an Land gehen, dabei ist mein Kleid schmutzig geworden. Und dann habe ich etwas vom Saum abgerissen, damit ich dir das Gift aus dem Mund wischen konnte. Man hat dir nämlich eine Alraunentinktur eingeflößt, und du hast lange geschlafen, aber nun wird alles wieder gut.«
Dann berichtete sie ihr schnell noch von Kapitän Nieuwers Verrat, das brannte ihr auf der Zunge. » Verstehst du? Außerdem müssen wir entscheiden, ob wir uns jetzt nicht als Vaters Töchter und damit als Kandidaten für eine Lösegeldforderung zu erkennen geben sollen, was meinst du? Bisher habe ich das noch nicht getan.« Wie gut, dass sie nun endlich wieder zu zweit waren und sie nicht länger alles allein bedenken musste.
Lucia aber hatte entweder nicht zugehört, oder sie hatte nichts verstanden. Immer noch schaute sie sich ratlos in der Kajüte um. » Wie das hier aussieht!«, sagte sie und deutete auf das Durcheinander. Wirklich wach war sie anscheinend immer noch nicht.
Der Korsar wartete unter der Tür. Unvermittelt fuhr er sie an, so dass beide Mädchen zusammenzuckten. Wenn Mirijam seine Gesten richtig deutete, sollten sie an Deck gehen und sich damit gefälligst beeilen. Er würde sie hinaufbringen.
Lucia dachte gar nicht daran aufzustehen. Mirijam zerrte jedoch so lange an ihr, bis sie schließlich auf den Füßen stand. Schwankend lehnte sie an der Wand, bemüht, das Gleichgewicht zu halten und nicht umzufallen, während Mirijam versuchte, ihr das
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