Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
Jahren ein schlimmes Reißen. Der alte Herr hatte ihm zuletzt nur noch leichte Arbeiten gegeben, und damit war er gut zurechtgekommen. Aber in diesem zugigen Loch am Hafen, in das er sich mitsamt seiner armseligen Habe verkrochen hatte, machte er es bestimmt nicht mehr lange.
Und jetzt auch sie! Heute früh hatte ihr der Advocat die Tür gewiesen. » Geh, such dir was anderes. Ich brauche dich nicht mehr. Bis zum Mittag bist du fort.«
Kaum war der Herr unter der Erde, dachte sie, und noch bevor die letzte Messe zu seinem Seelenheil gelesen war. Sie war mit dem Advocaten nie warm geworden, doch das hätte sie nicht von ihm gedacht, Gott war ihr Zeuge. Dabei hatte der alte Herr vor seinem Tod gute Vorsorge für sie getroffen. Sie und die anderen aus der Dienerschaft, die fast ihr gesamtes Leben für die Familie van de Meulen gearbeitet hatten, sollten nach seinem Willen doch für immer ein Dach über dem Kopf und ausreichend zu essen haben. Sie hörte noch die Stimme des Advocaten, als er am Sterbebett des Herrn dessen Testament verlesen hatte, in dem von lebenslangem Wohnrecht die Rede war. Sie selbst hatte das mit ihrem Kreuzchen bezeugt. Ein gültiges Zeichen, dachte sie, schließlich hatte sie niemals lesen und schreiben gelernt. Galt ein solches Kreuz denn plötzlich nicht mehr? Oder hatte er nachträglich etwas an dem Letzten Willen des alten van de Meulen geändert, womöglich gar gefälscht? » Unrecht«, sagte die Stimme in ihr und » schlechter Mensch«.
Das Leben hatte sie gelehrt, auf der Hut zu sein und nicht jedem immer nur gute Absichten zu unterstellen, aber auch nicht das Schlechteste. Bei diesem Mann jedoch wusste sie nie, woran sie war. Jedenfalls war das so bis vor ein paar Stunden, denn nun wusste sie es. Eigentlich war er ihr von der ersten Begegnung an unheimlich gewesen, und nach Möglichkeit hatte sie seine Nähe gemieden. Nie konnte man sicher sein, ob er das, was er sagte, auch wirklich meinte. Er sprach allerdings nicht viel und über sich selbst schon gar nicht. Er hatte kein reines Herz. Wenn er einen Raum betrat, wurde es darin dunkler, als ob er das Licht aufsaugte, so jedenfalls war es ihr oft vorgekommen. Sie war nicht gern mit ihm zusammen in einem Zimmer. Doch Strenge und Ernsthaftigkeit waren etwas, wogegen in Antwerpen niemand etwas einzuwenden hatte, und das hatte auch der alte Herr so gesehen, als er Cohns Fleiß gelobt hatte, seine Klugheit und Züchtigkeit. Er hatte ihm blind vertraut, wegen der Familienloyalität, so hatte er das genannt. Familie! Sie jedenfalls hatte nie bemerkt, dass er sich für Mirijam interessierte. Dabei war das Kind doch sein Fleisch und Blut, die einzige Verwandte sogar, wie er behauptete. Davon abgesehen, wie konnte jemand dieses mutterlose Geschöpf nicht gernhaben? Nein, sie blieb dabei, er war kein guter Mensch. Was er getan hatte, dieser Rauswurf entgegen dem Letzten Willen des alten Herrn, war schlecht und böse. » Unrecht«, tönte es erneut in ihr. Oh ja, das war es gewiss, ein himmelschreiendes Unrecht.
Wie ein Gespenst schleppte sie ihr Bündel durch Straßen und enge Gassen, ziellos und ohne Mut. Sie sah nicht nach vorn oder zur Seite, starrte nur auf den nächsten Schritt. Plötzlich fand sie sich im Inneren der Kathedrale wieder. Wie kam sie hierher? Ihre Füße mussten sie von allein an diesen Ort getragen haben.
Gesa schlug das Kreuz vor der Brust. Bis auf das ewige Licht und dem Schein einiger Kerzen am Altar, die das Bildnis der Mutter Gottes erhellten, war es dunkel in der großen Kirche. Unsere liebe Frau Maria, Mutter Gottes, Trösterin in der Not, zu dir bin ich gekommen. Weihrauchduft hüllte sie ein, und wie immer, wenn sie eine Kirche betrat, faltete sie die Hände. Langsam wurde es ruhiger in ihr.
Gesa saß im Dunkel der Kirche. Sie betete ein bisschen, vergoss ein paar Tränen und dachte nach, über ihr Leben und den Tod, über Freude und Dank, und über Undank und Verrat. Und sie dachte an Lucia, ihr schönes Mädchen, das sie oft in diese große Kirche zum Gottesdienst begleitet hatte. Sie sah Mirijam vor sich, und ihr Herz schmerzte vor Sehnsucht nach den beiden, wie Tag für Tag seit ihrer Abreise. Vor allem sorgte sie sich um Lucia, das liebe Kind. Sie wirkte stabil und gesund, dabei konnte schon ein Windhauch sie zum Erzittern bringen. Sie hatte häufig schlimme Träume … Wie sollte sie sich auch nicht um dieses Mädchen sorgen? Hatte sie es nicht in den Armen gehalten, an ihre eigene übervolle Brust gelegt,
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