Purpurdämmern (German Edition)
der du so eifrig darauf bedacht bist, dir die Schuld fürs Leid des ganzen Universums aufzuladen – hast du dieses Leuchtfeuer entzündet?« Umos knochiger brauner Zeigefinger stieß ihm gegen die Brust.
»Wohl kaum.« Santino begriff noch immer nicht, was der Alte ihm sagen wollte.
»Also hat ein anderer es getan. Die Kjer haben einen Verbündeten in den Städten der Fayeí. So ein riesiger Tunnel gräbt sich nicht über Nacht. Es dauert Jahre, ach was sage ich, Jahrzehnte. Auch wenn das mit der Zeit natürlich so eine Sache ist.« Umo rieb sich über den kahlen Schädel. »Du brauchst dir gewiss nicht allein die Schuld zuzusprechen. Hier sind andere Kräfte am Werk, die den Legionen der Kjer den Weg ebnen wollen.«
Es dauerte einen Moment, bis Santino die volle Tragweite dessen begriff, was der Alte gerade gesagt hatte. Wenn es dieses magischen Signals bedurfte, um die Devoras zu lenken, wenn sie ohne das Leuchtfeuer ihren Hunger anderswo stillen würden, dann …
»… dann müsste man sie doch aufhalten können«, murmelte er. Plötzliche Erregung stieg ihm ins Blut und vertrieb die Erschöpfung von der Plackerei der letzten Stunden. »Was ist dieses Leuchtfeuer für ein Ding? Kann man es aufspüren und austreten?«
Der Blick des Alten wurde starr und richtete sich an Santino vorbei auf etwas zwischen den Bäumen.
»Umo? Hast du gehört?«
Mit einem Fluch sprang Umo auf und lief ein paar Schritte den Weg hinunter. Er bückte sich und hob etwas mit zwei Fingern auf, hielt es triumphierend in die Luft. »Habe ich dich, du grässliches Ding!« Es war eine Flüster-Akelei, eine einzelne, weiß und gelb leuchtende Blüte. »Die muss mir gestern durch die Finger geschlüpft sein!«
Oder Marielle hat sie versteckt, dachte Santino, sprach es aber nicht laut aus.
»Die hier«, verkündete Umo, »die gäben zum Beispiel ein treffliches Leuchtfeuer ab. Du brauchst nur ein paar mehr davon, du musst schließlich das halbe Spektrum durchmessen. Aber die, die diese leichtfertigen Kinder in meinen See gesät haben, dürften wohl ausgereicht haben, um die Devoras herzuführen.«
»Du glaubst, Kens Flüster-Akeleien sind für das da verantwortlich?« Santino deutete zum gespaltenen Himmel. »Die Risse waren schon da, bevor er überhaupt wusste, wie er mit seinen ungeschickten Fingern ins Gewebe zu greifen hat.«
»Mag sein.« Mit einem Knurren ließ der Alte die Blüte fallen und zermalmte sie unter seinem Fuß. »Trotzdem hat irgendetwas sie hergelockt. Genauso, wie etwas sie nach Níval zieht.«
Im Moment, da er beiseitetrat, raschelte es im Gras, wisperte und knackte. Die Blütenblätter einer zweiten Akelei hoben sich aus dem Grün, drehten sich und zuckten. Auf abstoßende Weise erinnerten sie an Zungen, vor allem, da ihre Spitzen sich blutrot verfärbt hatten.
»Sarrakhans Gnade«, stieß der Alte hervor. »Sieh dir das an!«
Santino trat näher. Halb begraben in einem Wust aus Gras und vermoderndem Laub, steckte der Kadaver einer Ratte. Die Akelei umschmiegte das tote Fell, doch ein Teil davon hatte sich in eine Scharlachblüte verwandelt, wie sie auf den grauen Ranken wuchsen.
Aan’aawenhs Geschichte kam ihm in den Sinn, dass die Blumen einem leichtfertigen Traum entsprungen waren. Aber vielleicht stimmte das nicht, vielleicht war es nur eine hübsche Fabel, mit der sie ihre Kinder Umsicht lehrten. Vielleicht hatte diese rot blühende Pest ihren Ursprung in ein paar Flüster-Akeleien, die Marielle vom Rabenfächer hierhergetragen und dann verloren hatte, und die über die Jahre ihren eigenen Weg gefunden hatten, zu überleben und sich zu vermehren.
Vielleicht hatte der Herzschlag von tausend Scharlachblüten die Aufmerksamkeit der Devora erweckt, die schließlich durch den von ihr selbst geschaffenen Riss hinab in diese Welt gestürzt war.
Wie auch immer es geschehen war, für Dämmer-Detroit kam jede Hilfe zu spät. Selbst wenn nicht eine Legion blutdurstiger Kjer-Reiter den Bestien folgte, hatte der Riss das Gewebe dieser Sphäre so schwer beschädigt, dass sie unweigerlich brechen musste. Und die Spalthunde gaben der Stadt den Rest.
Die kleinen Blütenzungen tasteten nach dem toten Rotkehlchen. Der Vogel musste vor Kurzem noch am Leben gewesen sein, denn Blut glänzte feucht auf seinem Gefieder. Und wo das Blut die Akelei benetzte, verwandelte sie sich in ihre räuberische Scharlachgestalt.
Als Santino in die schwarzen Augen des Buchstabensammlers sah, wusste er, dass Umo genau das Gleiche durch den
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