Purpurdämmern (German Edition)
machen müssen.
Zu seiner Überraschung fand er nicht viel Wut in seinem Innern. Die Gleichgültigkeit überwog. Sollte sie doch rummachen, mit wem sie wollte. Wenn sie unbedingt einen Schläger brauchte, um ihren Eltern ihre Unabhängigkeit zu beweisen, dann war das nicht sein Problem.
Er senkte demonstrativ den Kopf, nahm die Karte und fuhr fort, die Liste mit den Hauptspeisen zu lesen.
»Komm schon, Pisser, wir sind noch nicht fertig!« Doggie war mit einem Schritt bei ihm, packte seinen Arm und zerrte ihn aus der Sitzbank. Ken stolperte und schrammte mit einer Hand über den Boden. Die Angst schoss in ihm hoch, ein erbärmliches Frieren. Hier hatte Doggie jede Menge Publikum und dann noch July, der er beweisen wollte, was für ein toller Hecht er war.
»Lass mich in Ruhe«, murmelte Ken. »Ich hab dir nichts getan.«
»Bis auf die Scheiße im Depot gestern, oder?« Doggie stemmte die Fäuste in die Hüften und trat einen Schritt zurück. »Und fünf Minuten später tauchen die Bullen auf. Ich hab’s Pat gesagt, man kann dir nicht so weit trauen, wie er spucken kann.«
»Ihr habt
mir
aufgelauert, nicht umgekehrt. Und die Cops sind aufgetaucht, weil jemand die Schüsse gehört hat.« Ken richtete sich auf. Die Furcht vereiste ihm die Kehle. Wo steckte Coinneach? Er wollte sich nicht mit Doggie prügeln, und das noch mitten im Restaurant. Noch schlimmer als die Angst vor gebrochenen Knochen war die Demütigung unter den Blicken der Mädchen. Auch wenn er nichts mehr mit July zu tun haben wollte. Sie würde in der Schule herumerzählen, wie er sich vor Doggie in die Hosen gemacht hatte.
»Tut mir leid, Mann.« Letzter Versuch, sich in Würde aus der Sache herauszuwinden. »Ich will keinen Ärger, okay?«
Aus den Augenwinkeln nahm er die verstohlenen Blicke der anderen Gäste wahr. Keiner sah zu offensichtlich zu ihnen hin. Die Kellnerinnen gaben vor, auf der anderen Seite des Restaurants beschäftigt zu sein. Super.
Doggie besaß einen Ruf in der Gegend. Keiner wollte Ärger mit McKinneys Schlägern. Der Restaurantbetreiber würde den Teufel tun und die Cops rufen, solange Doggie ihm nicht den Laden abfackelte. Der Kerl sah einfach weg und hielt den Mund, wie alle anderen auch in Corktown. Gott, wie erbärmlich. Das waren die gleichen Leute, die tuschelten, es sei Trumbulls eigene Schuld, dass Pat und Doggie ihm den Laden zerlegt hatten. Ihre Angst war es, die Typen wie Doggie stark machte. Je mehr Leute sich vor ihnen fürchteten, desto mehr Macht sammelten sie an.
Doggies Hand schoss vor, und Ken wich nicht schnell genug aus. Die schwieligen Finger verkrallten sich in seinem T-Shirt. Doggie war ungefähr anderthalbmal so schwer wie er selbst, sein Griff hart wie eine Rohrzange. »Das hättest du dir früher überlegen sollen. Bevor du mit den Bullen geredet hast.«
Die andere Faust kam hoch. Es war wie ein Schnappen, als Kens Wut sich über seine Angst erhob und mit ihr sein Kalkül und seine Reflexe.
Santinos Lektion war nicht vergeblich gewesen. Er ließ sich in die Knie sacken, als die Faust auf ihn zuschoss. Die unerwartete Bewegung brachte Doggie aus dem Konzept. Sein Hieb ging ins Leere. Mehr aus Instinkt als durch bewusstes Denken griff Ken ins Gewebe. Es fühlte sich an wie ein Aufprall auf Beton. Vor Überraschung und Schmerz schrie er auf.
Doch ein wenig gaben die Maschen nach, ein winziges bisschen. Genug, um den Ruck, mit dem er Doggie an sich vorbei zog, in den Impuls eines Dampfhammers zu verwandeln.
Der eigene Schwung schleuderte Doggie nach vorn, doch Ken verwandelte sein Stolpern in das Entgleisen einer Lokomotive. Mit unbeschreiblicher Wucht krachte Doggie in einen Servierwagen auf der anderen Seite. Geschirr ging zu Bruch, Gäste kreischten. In einer Welle von Panik sprangen die Leute von ihren Tischen auf.
July starrte ihn an, als wären Ken plötzlich Tentakel aus den Schultern gewachsen.
Stöhnend richtete sich Doggie auf. Sein Gesicht und sein Ärmel waren mit Soße verschmiert. Er blutete an der Schläfe.
»Das war ein Fehler«, knurrte er. »Jetzt bist du tot.«
Seine Hand ruckte nach hinten zum Gürtel. Für einen Herzschlag fürchtete Ken, dass er eine Pistole ziehen würde. Doch das tat er nicht. Stattdessen blitzte ein Messer in seiner Hand auf. Kristin keuchte.
Ganz toll. Ken starrte die Klinge an, als wäre sie eine Viper. Der frisch gewonnene Mut blieb ihm im Hals stecken. Keiner der Anwesenden, nicht ein einziger, schritt ein. Es griff auch niemand zum Telefon.
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