Purpurdämmern (German Edition)
trocken. Gewiss, er hatte sie verraten. Sie aber hatte es ihm mit einem Gegenverrat vergolten, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte. War das einer so langen Freundschaft wie ihrer würdig? Hinterlist mit Hinterlist zu vergelten? Sie hatte ja geahnt, dass sie es nicht ewig würde geheim halten können. Doch jetzt fühlte sie sich noch hilfloser als in dem Moment, da sie Eoghan ihre Verlobung mit Ken gestehen musste. Ihr Magen brannte wie Säure. Brennnesseln, Dornenranken und Gestrüpp schlugen um ihre Beine.
»Es tut mir leid«, wisperte sie.
Er antwortete nicht. Es war zu dunkel, um zu erkennen, was in seinem Gesicht vorging. Die Sirene kam näher.
»Ich habe gehört, was du zum Buchstabensammler gesagt hast. Über die Kjer und dass eine Hochzeit nichts ändern würde. Dass wir überhaupt kein Portal in die Ankerwelt brauchen.«
Zwischen hüfthohen Fliedersträuchern blieb er stehen und tastete nach seiner Schulter. Die ganze Zeit hatte sie vermieden, die Wunde genauer anzusehen.
»Also hast du dich gerächt«, sagte er. »Fühlst du dich jetzt besser?«
»Ich wusste doch nicht, dass das passieren würde«, brach es aus ihr heraus. »Ich wollte das nicht!«
»Aber jetzt, wo dein kleines Abenteuer diesem Emporkömmling Ceallacháin den Weg zur Palastrevolte geebnet hat, hast du mich vorsichtshalber aus dem Loch geholt, weil du mich noch brauchst?«
»Nein.« Kläglich kam es aus ihrer Kehle. »Es tut mir so leid. Ich schwöre, ich wollte das nicht. Ich wusste nicht, was der König tun würde, okay? Ich wollte dir einen Denkzettel verpassen, aber ich wollte nicht, dass dir etwas zustößt.« Sie verstummte für einen Moment. »Du hättest es mir sagen sollen.«
»Ja.« Santino seufzte. »Das hätte ich. Touché. Mir tut es auch leid.«
»Und jetzt bin ich auch noch schuld, dass der Tíraphal in Flammen steht.«
»Schuld bist du nicht.« Er bog die herabhängenden Zweige eines Apfelbaums zur Seite. Wolken quollen vor die Mondscheibe und verschluckten das bläuliche Licht. »Nur einen Vorwand hast du geliefert. Aber still jetzt. Wir sind gleich da.«
Zu ihren Füßen raschelte die Purpurkatze.
Da bist du noch einmal glimpflich davongekommen, kleines Mädchen.
Sie verschluckte die scharfe Erwiderung. Ausgerechnet Nessa, die sonst keine Gelegenheit ausließ, auf dem Magier herumzuhacken.
»Warte«, flüsterte er. »Beweg dich nicht.«
In einem Augenblick stand er neben ihr, im nächsten war er zwischen den Bäumen verschwunden. Ihr wurde mulmig zumute. Regen tropfte von den Zweigen. Laub raschelte. Direkt vor ihr erhob sich die Anhöhe.
Santino glaubte, dass die Assassinen ihr nichts tun würden, denn sie war ja das wichtigste Puzzleteil in Maebhs Intrige. Deshalb hatte er überhaupt zugelassen, dass sie ihn hierher begleitete. Trotzdem fürchtete sie sich vor dem, was sich im Dunkeln verbergen mochte. Sie machte einen vorsichtigen Schritt. Dann noch einen.
Hast du ihn nicht gehört?
Die winzigen Krallen pikten ihr in Oberschenkel und Arme, als Nessa ihre Schulter erklomm. Der buschige Schwanz fuhr ihr übers Gesicht.
Du sollst hier warten.
»Vielleicht braucht er Hilfe«, flüsterte sie.
Ganz nah schrie ein Käuzchen. Ein schauriger Laut. Sie schlich den Hügel hinauf. Die Apfelbäume drängten sich zu einem Dickicht zusammen, als frören sie im kalten Regen. Tagsüber war es leicht gewesen, sich einen Weg durchs Gehölz zu bahnen. Jetzt, im Stockdunkeln, blieb sie bei jedem Schritt im Rankengestrüpp hängen. Sie stieß gegen Steine und rutschte auf der schlammigen Erde aus und hielt kurz inne, um sich zu orientieren.
Still.
Nessa stieß ihren Kopf in ihre Halskuhle.
Da ist jemand.
Marielle ließ sich auf Knie und Hände sinken.
Die Polizeisirene von der Straße her jaulte nun so laut, dass sie die Nachtgeräusche übertönte. Das Licht warf blaue und rote Flecken in die Nacht, flackerte vorbei und verschwand zwischen den Ästen.
Sie kroch ein Stück weiter, bis sich im Unterholz ein Durchblick auf die Waldlichtung öffnete. Im gleichen Moment gaben die Wolken den Mond wieder frei. Bleiches Licht floss in die Schatten und sättigte sie mit Mitternachtsblau. Auf der anderen Seite der Lichtung standen zwei Menschen, ein Mann und eine Frau. Er hielt ihre Hände. Marielle konnte sein Gesicht nicht sehen, doch sie erkannte sein Sonnenhaar. Coinneach. Kens Vater. Der Mann, an dem ihr Schicksal hing, und noch viel mehr das Schicksal von Eoghan und von Tír na Mórí. Die Frau sah zart und müde aus.
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