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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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ihn daran erinnert hätten, dass sie gerade um Haaresbreite dem Todessturz in einen hundert Meter tiefen Treppenschacht entkommen waren. Er tauschte einen zweiten Blick mit Santino, dann wateten sie an Land.
    Marielle versuchte, Nessa mit ihrer durchweichten Wildlederjacke trocken zu reiben, was vergebliche Liebesmüh war. »Bevor ihr auch nur ein Wort sagt«, fauchte sie. »Ich habe euch das Leben gerettet. Nur dass das klar ist!«
    »Ich sage ja gar nichts.« Ken biss die Zähne zusammen, um den blöden Lachkrampf zu unterdrücken, der schon wieder seine Kehle hochsteigen wollte.
    »Damit wissen wir wenigstens, wie wir zum Depot zurückkehren.« Santino ließ sich auf die Ufermauer sinken, zog nacheinander seine Stiefel aus und goss das Wasser aus. Sein Mantelsaum tropfte, die Ärmel tropften, die Haare klebten ihm am Kopf wie ein Helm. »Nämlich nicht durch ein Tor. Hat jemand eine Vorstellung, wo wir sind?«
    »So weit kann es nicht sein«, sagte Marielle. »Dämmer-Detroit ist nicht so groß.«
    Ken hatte eine vage Ahnung, aber sicher war er sich nicht. Weiter vorn, jenseits der Brücke, machte der Bach einen Knick. Dahinter lichtete sich das Unterholz. »Ich sehe mal nach.«
    Der Sand der Böschung verlor sich nach wenigen Schritten in einem modrigen Laubteppich. Die Brücke verlängerte sich zu einem Trampelpfad, der aussah, als wurde er häufig benutzt. Auf der anderen Seite des Weges wucherte kniehohes Gras zwischen den Baumstämmen.
    Ken trat aus dem Schutz der Bäume heraus und blieb wie angenagelt stehen. Er hatte richtig vermutet, der Bach mündete in den Lake St. Claire. Das bedeutete, dass sie sich auf Pêche Island befanden, einem vom Detroit River umflossenen Inselchen, auf das er nur ein einziges Mal in seinem Leben einen Fuß gesetzt hatte. Das war in der Grundschule gewesen, bei einem Klassenausflug, dem tagelange Diskussionen zwischen Mom und Dad vorausgegangen waren. Randall O’Neill wollte die dreißig Dollar für die Teilnahme an der Kanufahrt nicht zahlen. Mom steckte Ken das Geld heimlich zu, nachdem der sich zwei Nächte lang in den Schlaf geheult hatte. Richtig genossen hatte er den Ausflug trotzdem nicht, weil Marc ihm den Rucksack ins Wasser geschmissen hatte. Marc, der nicht mal die Highschool geschafft hatte und sich jetzt mit Fleischpacken drüben in Manchester durchschlug, was man so hörte.
    Er schüttelte die Erinnerung ab, kniff die Augen wegen der Helligkeit zusammen und versuchte zu begreifen, was er sah.
    Die glatten, blaugrauen Fluten des Lake St. Claire verschmolzen mit dem Horizont, aber es sah falsch aus. Die Linie, entlang derer sich Wasser und Himmel berührten, lag viel zu nahe, und sie
schäumte
. Nebel und Wasserdampf wirbelten empor, wie über einem Wasserfall. Einem zwanzig Meilen breiten Wasserfall, wohlgemerkt. Weiter drüben, über dem Südufer des Detroit River, pulsierte der grünliche Riss im Himmel. Mann, das Ding jagte ihm einen Schauer über den Leib. Wie das Maul eines Monsterkraken, der sich anschickte, die Wirklichkeit zu verschlingen.
    »Dort drüben verläuft die Grenze«, sagte Marielle. »Das Ende der Sphäre.«
    Ken zuckte zusammen, weil er sie nicht kommen gehört hatte. Mit Verzögerung drehte er sich um. Ihr Lederjäckchen sah aus wie ein fleckiger Kartoffelsack, die Federn am Kragen zu Klumpen geronnen. Ihre tropfnassen Locken hatte sie sich mit Paketschnur zusammengebunden. Trotzdem fand er sie süß.
    Es lag an dem blöden Kuss. Wenn sie ihn bloß nicht geküsst hätte im Depot. Und wenn er sich nur nicht sonstwas darauf eingebildet hätte. Sie hatte recht, er war ein Idiot. Vor lauter Befangenheit wurde ihm ganz heiß. Dazu passte, dass er mit dem grün und blau geschlagenen Gesicht auch noch aussah wie Frankensteins Monster. Er wunderte sich sowieso, dass sie den ganzen Morgen noch keinen Spruch deshalb gemacht hatte.
    »Was meinst du mit
Ende der Sphäre
?«, stieß er hervor.
    »Na, eben das Ende von Dämmer-Detroit.«
    »Und was ist dahinter?«
    »Keine Ahnung. Nichts. Chaos. Ich weiß nicht genau.«
    »Hast du nie nachgesehen?«
    Sie wölbte die Unterlippe vor. »Die Grenzen sind lebensgefährlich. Wenn du dich zu nahe heranwagst, wirst du in Stücke gerissen. Außer du bist ein Grenzbewohner.«
    »Und was ist ein Grenzbewohner?«
    Ein Schulterzucken. »Gespinstgeister. Das, was du auf dem Freeway gespürt hast.«
    »Du meinst, wenn ich mit dem Boot hinausrudere, falle ich hinunter?«
    »Ich denke eher, du wirst in den Sog gezogen und

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