Purpurdämmern (German Edition)
über ihn hinweg. Er landete im Halbdunkel auf einer Betontreppe. Hastig tastete er seinen Kopf nach Verletzungen ab. Sarrakhans goldene Schwingen, Glück gehabt. Das Pfeifen verhallte. Offenbar verfolgten die Vögel ihre Opfer auf Sicht und verloren das Interesse, sobald die Beute verschwunden war.
»Downtown ist Jagdgebiet«, wisperte Marielle.
»Jagdgebiet«, wiederholte er.
Sie hatte den Anstand, schuldbewusst die Wimpern zu senken. Er rieb sich die Stelle am Handgelenk, wo der Armreif ihm die Haut versengt hatte. Das Ding war nützlich und hatte ihm oft genug den Hals gerettet, aber mit chaotischem Gewebe kam es nicht klar. Und da er es nicht ablegen konnte, musste er wohl oder übel durch den Reif hindurchkanalisieren, egal wie schmerzhaft das war. Er seufzte und blickte sich um.
Sie standen in einem dämmrigen Treppenhaus. Sand und vertrocknete Blätter sammelten sich unten auf den Stufen. Es roch nach muffigen alten Decken, als hätte seit Jahren kein Mensch einen Fuß hier hereingesetzt.
»Also gut.« Er schob sein Schwert ins Wehrgehänge und hielt Marielles Blick fest. »Wie weit ist es von hier zum Depot?«
»Hier war ich noch nie«, murmelte sie.
»Ungefähr drei Meilen«, sagte Ken. »Ist schon mal besser als dreißig Meilen.«
Santino sah ihm ins Gesicht. Der Junge wirkte zu hart für sein Alter, und zu beherrscht. Jeden anderen hätte der plötzliche Ausbruch wilder Magie aus seinen Fingerspitzen zu Tode erschreckt. Ken verkraftete den Zusammenbruch seiner bekannten Welt erstaunlich gut und bewies Geistesgegenwart, wo andere in Panik verfallen wären. Sarrakhan, er hoffte wirklich, dass der Junge sich sein Angebot überlegte. Er konnte nützlich sein.
Hintereinander stiegen sie die schier endlosen Stufen hinunter. Ken als Erster, Marielle in der Mitte und Santino zum Schluss.
»Was war das gerade mit dem Tor?« Es beunruhigte ihn. Er hatte nicht viel Zeit in den Dämmerschatten vollbracht, doch dass die Tormagie plötzlich verrücktspielte, hatte er nie zuvor erlebt. Die Welten in den Dämmerschatten waren instabil und gefährlich, aber Tore waren eine feste Größe, auf die man sich verlassen konnte. Solange sie bestanden, brachten sie den Reisenden auf die andere Seite, selbst wenn diesseits die Sphäre explodierte.
»Ich verstehe das nicht«, wiederholte Marielle. »Wir hätten im Depot herauskommen müssen.«
Je tiefer sie hinabstiegen, desto schlimmer griff die Verwahrlosung um sich. Federn und Plastikfetzen lagen herum, Schmierereien verblassten an den Wänden.
»Sind wir aber nicht. Hast du eine Vorstellung, warum?«
»Es hat sich normal angefühlt. So wie immer.«
»Vielleicht warst du abgelenkt?«
»Es lag nicht an mir«, blaffte sie. Nessa machte einen Satz und hangelte sich an Marielles Beinen empor bis hoch zur Schulter, was die Prinzessin für einen Moment aus dem Tritt brachte.
Einen Herzschlag später lief ein Beben durchs Gebäude. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte und wölbte sich wie ein vom Wind gebeuteltes Laken. Im Reflex fasste Santino nach dem stählernen Handlauf an der Wand. Ken stolperte. Marielle sackte mitsamt der Purpurkatze auf ein Knie und stieß einen Fluch aus, bei dem ihre Gouvernante erst rot und dann blass geworden wäre. Santino verbiss sich ein Grinsen. Hoffentlich hatte sie den nicht bei ihm aufgeschnappt. Oder vielleicht hatte sie das doch. Ihm hallte schon wieder Amalias Zetern im Ohr, dass er kein Umgang für eine sechzehnjährige Braut sei.
Das ist nicht gut.
Nessa schwankte grüngelb auf Marielles Schulter wie eine angeschimmelte Galeone.
Wir sollten hier raus, bevor alles über uns zusammen…
Ihre Stimme in Santinos Kopf riss ab, als eine zweite Welle die Mauern zum Ächzen brachte. Schutt rieselte ihm auf die Schultern, Risse sprangen zwischen den Betonplatten auf. Irgendwo unter ihnen löste sich ein Stück des Bauwerks und toste in die Tiefe. Eine Staubwolke schoss ihnen entgegen. Sekundenlang verschwammen alle Konturen zu grauen Schemen. Das Atmen wurde zur Qual.
Bevor alles über uns zusammenbricht!
Panik bebte in Nessas tonlosen Worten, und das war das Spektakel fast wert. Santino wischte sich den Staub aus den Augen und half Marielle auf die Beine. Sie hustete und keuchte.
»Verdammter Mist!«, hallte Kens Stimme durch die Schwaden.
Santino drängte sich an Marielle vorbei und blieb neben dem Jungen stehen. Gemeinsam starrten sie auf die abgebrochene Treppe. Darunter klaffte Dunkel. Verbogene Stahldrähte und Betonbrocken
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