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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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hingen von der Kante hinab.
    »Was jetzt?«, fragte Ken.
    Santino warf einen Blick zurück zur blau lackierten Stahltür, ein Stück über ihren Köpfen. »Vielleicht gibt es ein zweites Treppenhaus.«
    »Vielleicht.« Ken klang nicht sehr überzeugt.
    »Du glaubst es nicht?«
    »Normalerweise gibt es ein Treppenhaus und einen Fahrstuhlschacht. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Fahrstuhl noch funktioniert.«
    »Ich könnte ein Tor machen«, wisperte Marielle.
    Santino drehte sich zu ihr um. »Was, wenn wir diesmal wirklich im Fluss herauskommen? Du hast gesagt, es liegt nicht an dir.«
    Sie murmelte etwas Unverständliches.
    »Ich weiß nicht.« Ken fuhr sich durch die staubgesprenkelten Locken. »Ich meine, ihr kennt euch besser damit aus als ich. Dimensionen und Tore … was soll ich sagen? Das ist eure Welt, nicht meine.« Er deutete in den Schacht. »Ich weiß nur, dass da kein Weg runterführt. Ihr könnt ja euer Tor bauen, und ich sehe solange nach, ob es vielleicht doch ein zweites Treppenhaus gibt.«
    Marielle schob sich nach vorn und tauschte den Platz mit Ken. Der stieg die Stufen zur Plattform hoch, machte einen großen Schritt über einen Riss hinweg und rüttelte an der Stahltür. Er betrachtete seine Hände, dann suchte er Santinos Blick. »Ich könnte das Schloss ja aufschweißen, oder?«
    Nein!
Nessa fauchte.
Keine Erschütterungen, sonst bricht der Boden unter uns weg.
    Ken blinzelte. Santino zuckte mit den Schultern. »Du hast sie gehört.«
    »Ich bin gleich so weit«, rief Marielle.
    Es war der Moment, in dem die dritte Welle des Bebens sie überrollte. Der Boden
hob
sich, und für einen Herzschlag blieb die Zeit stehen. Dann krachte die Welt zurück in ihre Angeln, und die Erschütterung lief Santino durch Arme und Beine. Das Hochhaus stöhnte wie ein zu Tode verwundeter Gigant. Ein tiefes Grollen, ein Knacken und Springen, das Dröhnen von überlastetem Stahl. Der Riss in der Plattform sprang zu einer armlangen Wunde auf. Die Stufen kippten. Marielles Schrei bohrte sich in das Knirschen brechenden Steins.
    Im Sturz packte Santino den Handlauf, doch der löste sich aus der Wand wie weiche Butter. Er fiel. Schuttbrocken trafen sein Gesicht. Der Magen stieg ihm in die Kehle. Dunkel verwirbelte, Schreie, Getöse.
    In höchster Not griff er ins Gewebe und trümmerte seinen Willen in die chaotischen Fäden. Ein Netz! Er dachte an Knüpfwerk, an fingerdicke Seile.
    »Ein Netz!«, brüllte er.
    Die Welt wurde schwarz.
    Dann eisig kalt.
    Gleißende Helle blendete ihn. Ein Hustenanfall ließ ihn sich die Lunge aus dem Hals keuchen. Tauwerk krachte auf ihn nieder. Er hörte ein Johlen und Prusten.
    »Genau wie du’s gesagt hast!« Das war Ken, die Stimme hysterisches Kichern. »Wir landen im Fluss! Genau wie du’s gesagt hast, Mann!«

    Alles brach gleichzeitig aus Ken heraus. Die Anspannung, die Todesangst, die unmäßige Erleichterung, am Leben zu sein. Er lachte wie ein Irrer und konnte minutenlang nicht damit aufhören.
    Santino hatte sich in einem bescheuerten Fischernetz verfangen, das einfach vom Himmel gefallen war, ein Anblick zum Schießen. Das Wasser reichte ihnen kaum bis zur Hüfte.
    Marielle stürmte mit Nessa unterm Arm ans Ufer, ganz die beleidigte Diva. Der Anblick der feuerrot glühenden Purpurkatze, der das Wasser blaue Rinnsale ins Fell weichte, stürzte ihn in einen zweiten Lachanfall. Er musste immer noch kichern, als sich Santino endlich befreit hatte und ihm einen säuerlichen Blick zuwarf.
    »Ein Glück, dass das Tor schon fertig war«, presste der Magier hervor. »Wir sind direkt hindurchgefallen.«
    »In den Fluss«, ergänzte Ken. Die Mundwinkel taten ihm weh vom Grinsen. Die Nase und die Abschürfung über dem Jochbein sowieso. Über Nacht war ihm das von den Hieben malträtierte Gesicht noch einmal so richtig angeschwollen. Er wischte sich Lachtränen und Sand aus den Augenwinkeln.
    Sie standen in einem Bach, dessen Bett teilweise gemauert war. Vielleicht ein Seitenarm des Detroit River. Ein paar Yards entfernt wölbte sich eine kleine Brücke über die Stromschnellen. An beiden Ufern wucherte ein Dickicht aus Büschen und Bäumen. Sassafras, Bitternuss-Hickory und Maulbeerbäume, dazwischen blühende Ginsterbüsche.
    Der Himmel zwischen den Baumkronen war aufgeklart. Regen tropfte von den überhängenden Ästen ins Wasser. Überall knackte und raschelte es. Vögel schossen durch die Zweige. Eine Idylle, wenn nicht die Klamotten ihm kalt auf der Haut geklebt und

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