Purpurdämmern (German Edition)
mehrspurige Brücke mit Downtown Detroit verbunden war. Das Geheul der Spalthunde hatte wieder eingesetzt, doch war die Quelle nicht auszumachen. Die Echos schienen sich aus allen Himmelsrichtungen gleichzeitig an den Wellen zu brechen.
Der Speerträger murmelte etwas Unverständliches – vielleicht einen Schutzzauber, oder einen Fluch. Furcht flackerte über seine Züge, ein gehetzter Ausdruck wie bei einem Hasen, der nur darauf wartet, dass der Falke auf ihn niederstößt. Ken dachte an Aan’aawenh.
Wir hatten keinen Ort, an den wir gehen können. Doch das hat sich nun geändert.
Sie wissen es, dachte er. Sie wissen, dass ihre Welt zerbricht. Sie fürchten sich.
Die Vorstellung, den Untergang einer ganzen Welt mitzuerleben, ließ seine Sorgen beschämend klein erscheinen. Er hatte Angst vor Mrs Prescott, vor Dad und seinem Bruder Pat, vor Pats Gang, die ihm Arme und Beine brechen wollten, ja sogar vor Moms Mondsuchtsanfällen. Sein Leben war durchzogen von Ängsten – von der Highschool zu fliegen, den AP -Test nicht zu schaffen, July im Schulflur zu begegnen.
Und hier zerschellte eine Welt. Musste die Angst ihrer Bewohner nicht übermächtig sein? Aber nein, sie erstickten nicht daran. Sie fürchteten sich, doch ließen sich nicht lähmen. Sie vertrauten auf ihre Rituale, auf ihr Erbe, auf mystische Geister, die sie beschützen sollten. Sie vertrauten auf Aan’aawenhs Führung. Sie glaubten, dass sich Neues offenbarte, wenn sie das Alte hinter sich ließen.
Er beneidete sie um ihr Vertrauen.
Kies knirschte unter dem Kiel des Kanus. Die Paddler trieben das Boot über die Sandbank hinweg in einen Tümpel, dessen Ränder mit Schilf überwuchert waren. Sie scheuchten einen Schwarm kleiner Reiher auf. Über den Büschen lärmten viele Krähen. Vielleicht lag ein totes Tier da unten, das sie anzog. Etwas Großes. Ein verendetes Reh, oder ein Wildschweinkadaver. Womöglich die Überreste der Beute, die ein Rudel Spalthunde zur Strecke gebracht hatte. Ihm wurde kalt.
»Wir sind da«, verkündete der Speerträger.
Sie stießen gegen einen halb verrotteten Holzsteg. Der erste Paddler hielt sich mit einem Arm am Poller fest. Ken richtete sich auf und sprang an Land.
»Aan’aawenh sagt, ich soll euch dies hier ausrichten«, sagte der Speerträger, als sie alle drei auf den glitschigen Bohlen standen. Nessa hatte sich um Marielles Schulter geschmiegt wie ein purpurn und gelb gefleckter Schal. »Kommt nicht vom Weg ab. Auf dieser Insel hat ein Fluch Gestalt angenommen. Bleibt auf dem Weg, egal was geschieht, und er kann euch nichts anhaben. Es sind nur Schatten und Geister, und der Weg ist geweiht. Sie können ihn nicht betreten.«
»Ein Fluch«, murmelte Santino. »Bestens.«
Auch dem Magier schienen der Schlaf und Aan’aawenhs Heilkunst gutgetan zu haben. Sein Blick hatte an Glanz gewonnen, die Linien seines Gesichts an Schärfe. Die Steifheit war aus seinen Bewegungen gewichen.
»Danke!«, rief Ken dem Mann zu.
Die Bootsführer stießen sich von den Holzpfosten ab und machten kehrt. Sie tauchten ihre Paddel so hastig ein, als könnte sich jeden Moment ein Monstrum im Weiher materialisieren.
»Ein Fluch also.« Santino ruckte an seinem Schwertgurt. »Dieser Weg ist so schmal, dass wir im Gänsemarsch gehen müssen. Ich denke, wir sollten uns Aan’aawenhs Botschaft zu Herzen nehmen. Behaltet eure Füße innerhalb der Grasränder, egal was passiert. Wenn das die gleiche Magie ist wie in ihrem Lager, trennt ihn ein unsichtbarer Schutzzaun vom Wald. Gleichgültig, was durch den Wald auf euch zukommt, es kann nicht hindurch. Es mag nach euch greifen, aber wird sich die Klauen dabei brechen. Ihr dürft nur nicht erschrecken und zurückspringen und den Weg dabei verlassen. Ich gehe als Erster. Marielle, du kommst hinter mir. Ken, du als Letzter, und was immer passiert, keine Experimente mit brennenden Steinen!«
Der Trampelpfad, der vom Steg ins Dickicht führte, sah aus, als sei er seit Jahrzehnten nicht benutzt worden. Sträucher und tief hängende Zweige formten einen grünen Schlund. Mit einer glatten Bewegung zog Santino das Schwert aus der Scheide. Das schleifende Geräusch von Stahl auf Stahl ließ Ken zusammenzucken.
»Hey«, in Marielles Zöpfen klirrten Perlen und Muscheln gegeneinander, »stimmt es, dass Rupertin Hufschwinge am anderen Ende der Insel lebt?«
»Jedenfalls hat Aan’aawenh das behauptet.« Der Magier warf einen Blick über die Schulter.
»Rupertin Hufschwinge«, wisperte sie. »Das
Weitere Kostenlose Bücher