Purpurschatten
Ansehen.
Zum Raffael-Saal hatte Bruno sich vom Billeteur über den Nachtwächter emporgearbeitet, und seit genau vierzig Jahren genoß er das Ansehen eines Oberaufsehers in dieser heiligen Halle, die er seither als seine zweite Heimat betrachtete.
Seit vierzig Jahren bestaunte Bruno tagtäglich Raffaels Meisterwerke, und seit eben dieser Zeit machte er sich Gedanken über sein großes Vorbild. An kalten Wintertagen, wenn die Besucher eher tröpfelten als strömten, verschlang er die Gemälde Raffaels mit Blicken. Jedenfalls hatte es den Anschein, wenn Bruno den Pinselstrich des Malers aus wenigen Zentimetern Entfernung begutachtete und sorgfältig in seinem Gedächtnis notierte.
Zu seinem Leidwesen gab es niemanden, mit dem er ernsthaft über seine Leidenschaft reden konnte, außer den Kollegen in den anderen Sälen des Vatikans; aber die nahmen Bruno schon lange nicht mehr ernst, denn seit geraumer Zeit behauptete Bruno, er kenne Raffaels Werke so gut und genau, daß er ein jedes aus dem Gedächtnis wiedergeben könnte, so er nur den Umgang mit Pinsel und Farbe beherrschte.
Eines Morgens, als Bruno Meinardi seinen Dienst antrat und wie gewöhnlich mit seinen Werken Zwiesprache hielt, bevor der Ansturm der Besucher begann, stutzte er. Auf dem Gemälde, das die Heilige Familie darstellt und zu Brunos Lieblingsbildern zählte, entdeckte er eine winzige Veränderung, so geringfügig und unbedeutend, daß sie niemand anderem aufgefallen wäre.
Der rechte kleine Fingernagel der Madonna wies einen dunklen Rand auf als hätte die Mutter Maria es nach der Hausarbeit unterlassen, ihre Nägel zu säubern.
Zuerst glaubte Bruno an eine Beschädigung des Gemäldes oder einen außerordentlichen Fliegenschiß; aber nach längerer Begutachtung des Falles – und zu einem solchen sollte sich die Begebenheit entwickeln – stellte er zweifelsfrei eine Veränderung an dem Gemälde fest, und er meldete diese dem zuständigen Kustos. Der begutachtete den Zustand des Gemäldes und kam zu dem Ergebnis, Bruno Meinardi leide unter Halluzinationen; Raffaels Heilige Familie habe nicht die geringste Veränderung erfahren.
Für einen Oberaufseher der Vatikanischen Museen, vor allem aber für Bruno, war diese Behauptung ein Schlag ins Gesicht. Denn wie schon gesagt: Bruno Meinardi kannte alle seine Gemälde, doch das niederschmetternde Urteil des Kustos hätte bedeutet, daß er sich nur eingebildet hatte, die Werke bis in die kleinsten Einzelheiten zu kennen. Das wollte Bruno keinesfalls auf sich sitzen lassen, und so sprach er noch am selben Tag beim Generaldirektor der Vatikanischen Museen vor, der ihn zwar freundlich, aber ebenfalls abweisend beschied.
Darauf schrieb Bruno Meinardi einen Brief an Kardinalstaatssekretär Smolenski, von dem man sich erzählte, er sei der wichtigste Mann im Vatikan nach dem Papst, und er erhielt postwendend die Antwort: Meinardi werde aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme von seinem Amt als Oberaufseher entbunden, und man gewähre ihm freiwillig 75 Prozent seiner in vier Jahren fälligen Rente. Die Vatikanischen Museen dürfe er mit sofortiger Wirkung nicht mehr betreten.
Ein Mann wie Bruno, der vierzig Jahre mit seinen Bildern gelebt hatte, ließ sich nicht von einem Tag auf den anderen aus seiner Welt herausreißen. Bruno Meinardi bekam Fieberanfälle und Entzugserscheinungen wie ein Süchtiger. Am übernächsten Tag löste er als Tourist in Freizeitkleidung eine Eintrittskarte und suchte den Raffael-Saal auf, um seinen Gemälden nahe zu sein.
Besuchern aus Japan und Amerika erzählte er gestenreich, er habe vier Jahrzehnte die gepflegten Hände der Madonna bewundert, und über Nacht habe sich Schmutz unter ihren Nägeln angesammelt. Als er gerade dabei war, einer spanischen Reisegruppe dieselbe Geschichte vorzutragen, wurde er von zwei Soldaten der Schweizergarde festgenommen und aus dem Saal entfernt.
Weil Bruno Meinardi sich wehrte und um sich schlug, erregte die Festnahme des alten Mannes mehr Aufsehen, als von beiden Seiten erwünscht war, und am folgenden Tag berichteten die italienischen Zeitungen vom tragischen Fall eines Museumswärters, der nach vierzigjähriger Tätigkeit im Vatikan verrückt geworden sei und an dem Raffael-Gemälde ›Die Heilige Familie‹ seltsame Veränderungen festgestellt zu haben glaubte.
Am selben Tag kehrte Juliette zu Brodka nach Rom zurück. Er befand sich in beklagenswerter Verfassung und hatte dunkle Ränder um die Augen. Seine Wangen wirkten blaß,
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