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Purpurschatten

Purpurschatten

Titel: Purpurschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Empfindungen Collin gegenüber so abgestumpft waren, daß sie nur noch Mitleid für ihn empfinden konnte. Sie dachte auch nicht an die Folgen, die dieser Unfall für sie selbst haben würde. Juliette fühlte sich innerlich leer.
    Deshalb hörte sie kaum zu, als der Oberarzt erklärte: »Dank modernster Medizintechnik kann Ihr Mann sich wenigstens in einem Rollstuhl fortbewegen. Sie haben vielleicht den Löffel vor seinem Mund gesehen. Wenn er diesen Löffel in den Mund nimmt, kann er den Rollstuhl lenken – eine fantastische Erfindung.«
    »Ja, eine fantastische Erfindung«, bemerkte Juliette bitter. Dann verabschiedete sie sich mit knappen Worten und verließ die Klinik, die noch immer den Namen ihres Mannes trug.
    Juliette wollte nicht in die Villa zurück. Es war wie eine Sperre, ein unüberwindbares Hindernis. Sie wußte, daß sie dort nachgrübeln würde, über Collin und vor allem über sich selbst und ihre unerwartete, erschreckende Gefühlskälte ihrem Mann gegenüber. Deshalb fuhr sie zu Brodkas Wohnung, griff zum Telefon und versuchte Brodka in Rom anzurufen. Vergeblich.
    Sie nahm die Postsendungen, die aus seinem Briefkasten hervorschauten, und legte sie auf seinen Schreibtisch, in der Absicht, sie für Brodka nach Rom mitzunehmen.
    Noch einmal versuchte sie, Brodka zu erreichen; denn sie hatte das dringende Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Sie wollte kein Mitleid, und sie brauchte niemanden, der mit ihr litt; denn ihr Leid hielt sich in Grenzen. Sie brauchte nur jemanden, dem sie erzählen konnte, was geschehen war.
    Juliette überlegte.
    Norbert. Ja, er war genau der Richtige. Er selbst hatte Juliette oft genug sein Herz ausgeschüttet, und sie hatte sich geduldig seine Geschichten aus dem Schwulenmilieu angehört.
    Diesmal brauchte sie selbst einen Zuhörer.
    Juliette wußte nicht, daß Norbert, der sie in seiner Wohnung herzlich empfing, längst über alles informiert war. Sämtliche Zeitungen hatten von dem entsetzlichen Unfall berichtet, bei dem Collin mit seinem Wagen in die Isar gestürzt war und um ein Haar im Autowrack ertrunken wäre. Doch Norbert war feinfühlig genug, den Überraschten und Schockierten zu spielen. Er ließ Juliette erzählen. Es tat ihr sichtlich gut.
    »Manchmal«, sagte sie nachdenklich, nachdem sie sich die Erlebnisse der vergangenen Stunden von der Seele geredet hatte, »manchmal glaube ich, das alles nimmt keine Ende mehr, so viel Schlimmes ist in letzter Zeit passiert. Nun auch noch das. Jetzt komme ich nie mehr von ihm los.«
    »Was meinst du damit?« fragte Norbert verwundert.
    Juliette ließ den Kopf hängen. Norbert sollte nicht sehen, daß sie feuchte Augen hatte. »Ich wollte mich von Hinrich scheiden lassen und Brodka heiraten.«
    »Ja, und? Hast du deine Meinung geändert?«
    »Ich kann mich doch nicht von einem Krüppel scheiden lassen, der vom Hals abwärts gelähmt ist …«
    Norbert dachte nach, wobei er die fünf Finger seiner linken und die vier seiner rechten Hand betrachtete. Dann meinte er: »Einen schalen Beigeschmack hätte die Scheidung in dieser Situation natürlich schon. Aber wenn dein Mann ein anständiger Kerl ist, reicht er die Scheidung ein.«
    »Hinrich – ein anständiger Kerl? Daß ich nicht lache. Er wird seine Situation ausnutzen, um mich weiter zu quälen und zu demütigen. Schlimmer als zuvor.«
    »Dann verstehe ich nicht, was dich daran hindern sollte, dich von ihm scheiden zu lassen. Dein Mann hat Geld genug, um eine ganze Truppe von Pflegern zu bezahlen.«
    »Wahrscheinlich hast du recht«, murmelte Juliette. »Würde ich bei ihm bleiben, würde er mir das Leben noch mehr zur Hölle machen.«
    Norbert setzte sich an den Flügel, der beinahe die Hälfte seiner Mansarde einnahm. Er griff ein paar sanfte Akkorde, aus denen sich eine Melodie entwickelte: ›As Time Goes By.‹ Juliette konnte sich nicht erinnern, Norbert jemals davon erzählt zu haben, was sie mit dieser Melodie verband.
    »Warum spielst du das?«
    »Warum?« Norbert runzelte die Stirn. »Das Stück gefallt mir. Jeder Barpianist beherrscht es im Schlaf. Gefällt es dir nicht?«
    »O doch, sehr. Für mich hat es nur eine ganz besondere Bedeutung.«
    »Mit den meisten Musikstücken verbinden wir eine besondere Bedeutung. Meist sind es schöne Erinnerungen, die durch den Klang neu belebt werden. Wir Barpianisten leben davon. Laß mich raten: Brodka.«
    Juliette nickte. »Es ist nun schon über drei Jahre her. Es war in New York …«
    »Die Stadt mit den besten

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