Pyramiden
weiter schlimm. Die Erinnerungen nehmen um mich herum Gestalt an. Man kann sie in Schriftrollen und Büchern festhalten.«
»Du meinst die Geschichte des Königreichs, verdammt!«
»Ja. Meine Erinnerungen.«
Teppicymon entspannte sich ein wenig. Erschrockene Faszination löste den Knoten der Wut.
»Wie alt bist du?« fragte er.
»Ich glaube … siebentausend Jahre. Aber manchmal habe ich das Gefühl, noch viel älter zu sein.«
»Siebentausend Jahre?« wiederholte der Pharao. »Im Ernst?«
»Ja«, sagte Dios.
»Wie kann man so etwas ertragen?« fragte Teppicymon.
Dios zuckte mit den Schultern.
»Siebentausend Jahre bestehen aus einzelnen Tagen«, erwiderte er. »Ein Tag nach dem anderen.«
Er verzog mehrmals das Gesicht, als er sich langsam auf die Knie sinken ließ und mit zitternden Händen den Stab hob.
»O Pharaonen«, intonierte er, »ich habe nur gelebt, um zu dienen.«
Langes verlegenes Schweigen folgte.
»Wir zerstören die Pyramiden«, sagte Far-re-ptah und setzte einen bindenumwickelten Fuß vor den anderen.
»Es wäre der Untergang des Königreichs«, entgegnete Dios. »Das kann ich nicht zulassen.«
»Du kannst es nicht zulassen?«
»Nein«, bestätigte Dios. »Was soll ohne Pyramiden aus uns werden?«
»Nun, wir wären endlich frei«, sagte Far-re-ptah. »Ich spreche natürlich für die Toten.«
»Ohne Pyramiden verwandelt sich Djelibeby in irgendeinen kleinen bedeutungslosen Staat«, sagte Dios. Entsetzt beobachteten die Ahnen, wie ihm Tränen in die Augen quollen. »Alles das, was uns am Herzen liegt, triebe im Strom der Zeit dahin, ohne eine führende Hand, Ungewißheit und Veränderungen ausgesetzt.«
»Wir sind bereit, das Risiko des Wandels einzugehen«, erwiderte Teppicymon. »Aus dem Weg, Dios.«
»Schweig!« donnerte der Hohepriester.
Dunkle Blitze flackerten zwischen den Ahnen. Dios blickte erstaunt auf seinen Amtsstab herab – zum ersten Mal entfaltete er eine derartige Kraft. Aber siebentausend Jahre lang hatten die Priester fest daran geglaubt, daß Dios’ Stab über diese und auch die nächste Welt herrschen konnte.
In der plötzlichen Stille kratzte etwas. Weit oben an der Großen Pyramide schob jemand ein Messer zwischen zwei schwarze Marmorplatten.
Die Pyramide pulsierte unter Teppic, und der Marmor war so glatt wie Eis. Die Neigung der Wand erwies sich als nicht annähernd so hilfreich, wie er gehofft hatte.
Man darf nicht nach unten sehen, dachte Teppic. Es kommt darauf an, den Blick nach vorn gerichtet zu halten, die gewaltige Höhe in einzelne Abschnitte einzuteilen. So wie die Zeit. Auf diese Weise überleben wir die Ewigkeit – man braucht sie nur in einzelne Stücke zu zerbrechen, um die Ehrfurcht vor ihr zu verlieren.
Unter ihm erklangen Stimmen, und er starrte in die Tiefe. Er befand sich noch nicht einmal in halber Höhe, aber er konnte deutlich die Menge auf der anderen Seite des Flusses sehen: eine graue Masse, hier und dort die Flecken blasser Gesichter. Und diesseits des Djel … Das bleiche Heer der Toten, davor die graue Gruppe der Priesterschaft mit Dios an der Spitze. Offenbar fand gerade irgendein Streitgespräch statt.
Das Zwielicht wurde noch etwas dunkler und kündigte die Nacht an. Es blieb nicht mehr viel Zeit.
Teppic streckte die Hand aus, fand den nächsten Spalt, hielt sich fest …
Dios sah Ptaclusp, der über den Geröllhang spähte. Er schickte sofort zwei Priester, um den Baumeister zu holen. IIb folgte mit seinem sorgfältig zusammengerollten Bruder.
»Was treibt der Junge da oben?« fragte Dios.
»Er will dafür sorgen, daß sich die Pyramide entladen kann, o Dios«, antwortete Ptaclusp.
»Wie?«
»Indem er den Schlußstein, äh, einen Teil des Schlußsteins anbringt, bevor die Nacht beginnt, o Dios.«
»Und das genügt?« Dios wandte sich dem Architekten zu.
IIb zögerte. »Vielleicht«, erwiderte er unsicher.
»Was geschieht, wenn es gelingt? Kehren wir dann in die auswärtige Welt zurück?«
»Nun, das hängt davon ab, ob der dimensionale Effekt, äh, einklinkt und in allen seinen Entwicklungsstadien stabil bleibt. Wenn sich die Pyramide hingegen wie ein Stück weiches Gummi verhält, das man in verschiedene Richtungen zieht, äh …«
IIb brach ab, als ihn Dios’ Blick durchbohrte.
»Ich weiß es nicht«, gestand er ein.
»Zurück in die auswärtige Welt«, sinnierte Dios. »In eine uns fremde Welt. Unsere Welt ist das Tal. Unsere Welt ist eine Welt der Ordnung. Menschen brauchen Ordnung.«
Er hob
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