Pyramiden
und verschwand.
Soviel zur Zeremonie.
Teppic holte mehrmals tief Luft, öffnete den Umschlag und sah sich den Inhalt an: eine Gildenobligation über zehntausend Ankh-Morpork-Dollar, ausgestellt auf den ›Inhaber‹. Ein eindrucksvolles Dokument, gekrönt vom Gildenwappen: doppeltes Kreuz und verhüllter Dolch.
Nun, jetzt gab es kein Zurück mehr. Er hatte das Geld genommen. Entweder überlebte er – in dem Fall war es seine Pflicht, die Summe dem Witwen-und-Waisen-Fonds der Gilde zu spenden –, oder man nahm das Wertpapier seiner Leiche ab. Teppic entdeckte einige Eselsohren, aber keine Blutflecken.
Er überprüfte seine Messer, rückte den Schwertgürtel zurecht, sah sich noch einmal wachsam um und lief los.
Wenigstens hatte ihn das Glück nicht ganz im Stich gelassen. Die älteren Schüler sprachen davon, daß es nur ein halbes Dutzend Routen gab, die man bei der Prüfung benutzte. In Sommernächten ging es in den entsprechenden Bereichen recht lebhaft zu: Die Schüler der verschiedenen Klassen hangelten sich an Dachrinnen entlang, krochen über Turmzinnen und hasteten über hohe Brücken und Stege, die einzelne Gebäude der Stadt miteinander verbanden. Das Klettern erfreute sich bei den einzelnen Abteilungen der Gilde großer Beliebtheit, und Teppic wußte, daß sein Geschick in dieser Hinsicht nichts zu wünschen übrigließ: Er hatte die Assassinengruppe geleitet, die beim Ausscheidungswettkampf Im Ersteigen Senkrechter Wände Ohne Jeden Halt den Sieg über das favorisierte Skorpion-Team errang. Er rechnete nicht mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten: Die Route zur Buchhalterstraße gehörte zu den einfachsten.
Teppic sprang, duckte sich auf einem Mauervorsprung, überquerte ein großes Haus, dessen Bewohner friedlich schliefen. Kurze Zeit später setzte er über einen anderthalb Meter breiten Spalt hinweg und erreichte das Dach der Sporthalle, die dem Reformierten Kult Junger Männer In Diensten Des Ichor-Gottes Bel Shamharoth zur Verfügung stand. Er setzte den Weg über grauen Schiefer fort, erklomm eine vier Meter hohe Wand, ohne merklich langsamer zu werden, schwang sich dann auf die Schindeln des Tempels, in dem man den Blinden Io verehrte.
Ein voller, orangefarbener Mond hing über dem Horizont, und Teppic spürte eine leichte Brise, die nach der schweißtreibenden Hitze in den Straßen so erfrischend wirkte wie eine kalte Dusche. Der junge Assassine lief noch etwas schneller, genoß den kühlen Wind, sprang vom Flachdach des Tempels herunter und rechnete damit, auf der kleinen, schmalen Holzbrücke zu landen, die über den Blechdosenweg hinwegführte.
Entgegen aller Wahrscheinlichkeit berührten seine Füße nur leere Luft. Irgend jemand hatte den Steg entfernt.
Bei solchen Gelegenheiten erinnert man sich; das ganze Leben läuft wie ein Film vor dem inneren Auge ab.
Teppics Tante weinte und stellte damit bemerkenswert gute schauspielerische Fähigkeiten unter Beweis: Die alte Dame war so unerschütterlich wie ein stures Nilpferd; ein harter Granitblock hätte mehr Gefühle haben können. Vater versuchte zur Abwechslung einmal, ernst und würdevoll auszusehen, während er betörende Vorstellungen von hohen Klippen und leckeren Fischen aus sich zu verbannen trachtete. Das Personal hatte an der einen Saalwand Aufstellung bezogen, und die lange Reihe reichte bis zur Haupttreppe: die Mägde rechts, Eunuchen und Diener links. Die Frauen machten einen Knicks, als Teppic an ihnen vorbeischritt, und dadurch verursachten sie einen hübschen Sinuswellen-Effekt, der sicher das Interesse des größten Mathematikers auf der Scheibenwelt geweckt hätte. Aber das mathematische Genie konnte ihn nicht zur Kenntnis nehmen, denn ein Stock lenkte es ab. Ein Stock, der von einer gestrengen Hand geschwungen wurde. Und die Hand gehörte zu einem kleinen, verärgerten Mann, der ein Nachthemd zu tragen schien.
»Aber es ist ein Gewerbe«, klagte Teppics Tante und putzte sich die Nase.
Der Vater klopfte ihr auf die Hand. »Unsinn, Blume der Wüste«, sagte er. »Mein Sohn ergreift einen Beruf. Da bin ich ganz sicher.«
»Wo liegt der Unterschied?« schluchzte Tante.
Vater seufzte. »Beim Geld, nehme ich an. Es tut ihm bestimmt gut, in die Welt hinauszuziehen, Freunde zu gewinnen und Erfahrungen zu sammeln. Das hält ihn beschäftigt, und dadurch kommt er nicht auf dumme Gedanken.«
»Aber warum soll er ausgerechnet Assassine werden? Er ist noch so jung und hat nie die geringsten Neigungen gezeigt …«
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