Pyramiden
XXVII. seinen Sohn liebte, sondern bewies auch einen chronischen Verwirrungszustand. Der Beutel enthielt: einen Korken, eine halb gefüllte Dose mit Sattelseife, eine kleine Bronzemünze mit ungewissem Wert sowie eine alte und daher recht geruchsintensive Sardine.
Es ist weithin bekannt, daß die Sinne plötzlich sehr viel schärfer werden, wenn man sich vom Tod bedroht sieht. Angeblich handelte es sich um eine instinktive Reaktion, die es dem Betreffenden ermöglichen soll, einen Ausweg aus seiner praktisch ausweglosen Lage zu finden.
Solchen Annahmen muß hier widersprochen werden. Die Sinnesschärfung bietet ein gutes Beispiel für jenes Phänomen, das in psychologischen Fachkreisen als ›Verdrängung‹ bekannt ist. Augen, Ohren und der ganze Rest versuchen verzweifelt, ihre Aufmerksamkeit nicht auf das unmittelbare Problem richten zu müssen – bei Teppic bestand es aus einem ziemlich harten Kopfsteinpflaster, das sich etwa fünfundzwanzig Meter unter ihm erstreckte und schnell näher kam –, in der vagen Hoffnung, es löse sich von ganz allein.
Womit in diesem besonderen Fall durchaus gerechnet werden darf.
Was auch immer der Grund sein mag: Teppic wurde sich plötzlich auf seltsam intensive Art der Umgebung bewußt. Blasser Mondschein strich über die Dächer; der Duft von frischem Brot wehte aus einer nahen Bäckerei; irgendwo in der Ferne weinte ein kleines Kind; ein Hund bellte. Und hinzu kam ein dumpfes Rauschen. Viel zu deutlich spürte Teppic, daß die Luft sehr dünn war und nicht den geringsten Halt bot …
In jenem Jahr kamen mehr als siebzig neue Schüler zum Gildenhaus. Die Assassinen stellten keine Aufnahmebedingungen: Ihre Schule stand allen offen, und man konnte sie leicht wieder verlassen – die Schwierigkeit bestand nur darin, nicht hinausgetragen zu werden. Auf dem Hof vor dem Zugang herrschte ein dichtes Gedränge an Jungen, die zwei Dinge gemeinsam hatten – viel zu große Koffer, auf denen sie saßen, und Kleidung, in die sie erst noch hineinwachsen mußten. Sie sahen darin aus wie in Kokons gehüllte Raupen, die auf eine rätselhafte Metamorphose warteten. Einige Optimisten brachten Waffen mit, die sofort beschlagnahmt und im Verlauf der nächsten Wochen nach Hause geschickt wurden.
Teppic sah sich aufmerksam um. Es hatte gewisse Vorteile, das einzige Kind von Eltern zu sein, die so sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt waren, daß sie die Existenz des Sohnes häufig vergaßen.
Teppics Gedächtnis zeigte ihm eine freundliche, immerzu lächelnde und gleichzeitig extrem egoistische Mutter, die sich für den Mittelpunkt der Welt zu halten schien. Nun, es kam ganz auf die Perspektive an. Sie hatte Katzen gemocht. Artela verehrte sie nicht nur, wie alle djelibebischen Bürger, sondern entwickelte eine echte, aufrichtige Sympathie. Teppic wußte, daß Katzen in Fluß-Reichen aus naheliegenden Gründen sehr geschätzt wurden, aber wenn er an solche Geschöpfe dachte, stellte er sich anmutige, würdevolle Tiere vor. Die Katzen seiner verstorbenen Mutter hingegen waren klein, fauchten ständig, legten die Ohren an, sträubten das Fell und machten sich einen Spaß daraus, zu kratzen und zu beißen.
Der Pharao verbrachte den größten Teil seiner Zeit damit, sich Sorgen um das Königreich zu machen. Ab und zu behauptete er, eine Möwe zu sein – wahrscheinlich lag es an seiner Vergeßlichkeit. Manchmal fragte sich Teppic, welches Wunder seine Empfängnis ermöglicht hatte: Teppicymon XXVII. und seine Gemahlin schienen in zwei verschiedenen Welten zu leben und sich für völlig unterschiedliche Dinge zu interessieren. Vielleicht hatten sie sich irgendwann durch Zufall im Schlafzimmer getroffen, und dann …
Dann kam ihr Sohn zur Welt. Nein, nicht sofort. Neun Monate später. Seine Erziehung fand auf einer Mal-sehen-wie’s-klappt-Basis statt. Mit anderen Worten: Man überließ ihn sich selbst und einigen Lehrern, die nur wenig zu seiner Entwicklung beitrugen, viel größeres Interesse an den Dienerinnen und Mägden zeigten. Die von Teppics Vater beauftragten Unterweiser boten die angenehmste Gesellschaft, erst recht dann, wenn sich der Pharao bei der Auswahl von seinen … animalischen Instinkten leiten ließ. Einen herrlichen Winter lang kümmerte sich ein älterer Ibis-Wilderer um Teppic. Einer seiner Pfeile hatte das Ziel verfehlt; als er im königlichen Garten danach suchte, vernahm er ein sonderbares, möwenartiges Krächzen und begegnete dem Pharao, der
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