Pyramiden
holte sie ein. Es war so leise wie eine Löwenzahn-Uhr, die Mitternacht schlug, aber es übte Druck aus. Es rollte über sie hinweg weich wie Samt, so abscheulich wie eine zerquetschte Zervelatwurst.
Und es verklang.
Du Mistvieh wurde langsamer – ein ziemlich komplizierter Vorgang, der präzise Anweisungen für jedes einzelne Bein erforderte.
Irgend etwas wich fort: eine schwere Last, die plötzlich ihr Gewicht verlor, eine Anspannung, die zu Erleichterung metamorphierte.
Du Mistvieh blieb stehen, als er im grauen Zwielicht einige Dornbüsche entdeckte, die zwischen den Felsen am Wegesrand wuchsen.
… Linker Winkel. X gleich 37. Y gleich 19. Z gleich 43. Beißen …
Frieden senkte sich herab. Es blieb alles still – bis auf den Verdauungsapparat des Kamels und die fernen Schreie einer Wüsteneule.
Ptraci schwang sich von Du Mistviehs Rücken herunter, landete auf dem sandigen Boden und verzog das Gesicht. »Mein Po«, klagte sie dem Rest der Welt. »Mein Po ist eine einzige Blase.«
Teppic stieg ebenfalls ab, stakte und humpelte zum Geröll, erkletterte den Hang und starrte über die Kreidefelsen hinweg. Er rechnete damit, einen breiten Djel zu sehen.
Ungläubig riß er die Augen auf. Das Tal existierte nicht mehr.
Es war noch immer dunkel, als der Oberste Einbalsamierer Dil erwachte. Das seltsame Prickeln in seinem Leib wies ihn sofort darauf ihn, daß etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er schlüpfte unter der Decke hervor, zog sich an und strich den Vorhang beiseite, der als Tür diente.
Draußen erstreckte sich eine weiche samtene Nacht. Eine Zeitlang lauschte er, vernahm nicht nur das Summen und Zirpen der Insekten, sondern auch noch etwas anderes: ein dumpfes Brutzeln und Zischen an der Grenze des Hörbaren.
Vielleicht hatte ihn jenes Geräusch geweckt.
Warme und feuchte Luft wehten ihm entgegen. Dunstschwaden stiegen vom Fluß auf, und …
Die Pyramiden entluden sich nicht mehr.
Dil war in diesem Haus aufgewachsen. Seit Tausenden von Jahren gehörte es der Familie des Obersten Einbalsamierers. Er hatte die Entladungsblitze der Pyramiden so oft gesehen, daß er sie mit der gleichen Aufmerksamkeit zur Kenntnis nahm wie seinen Atem. Doch jetzt herrschten Dunkelheit und Stille am anderen Flußufer – eine schreiende Stille, eine finster starrende Dunkelheit.
Aber das Schlimmste kam erst noch. Als Dil seinen entsetzten Blick gen Himmel richtete, als er das Firmament über der Nekropolis beobachtete, sah er die Sterne – und die Dinge, an denen sie befestigt waren.
Dil erschrak. Dann rief er sich zur Ordnung, überlegte gründlich und kam sich wie ein Narr vor. Die Priester haben uns immer wieder darauf hingewiesen, fuhr es ihm durch den Sinn. Dort ist der Beweis. Zum ersten Mal kann man es ganz deutlich sehen.
Na schön. Fühlst du dich jetzt besser?
Nein.
Der Einbalsamierer wirbelte herum und rannte mit fliegenden Sandalen über die Straße, bis er das Haus erreichte, in dem Gern und seine große Familie wohnten. Er zerrte den protestierenden Lehrling von der gemeinsamen Schlafmatte, zog ihn auf die Straße, richtete das picklige Gesicht nach oben und zischte: »Sag mir, was du siehst!«
Gern blinzelte.
»Ich sehe die Sterne, Meister«, erwiderte er.
»Woran sind sie befestigt, Junge?«
Gern entspannte sich ein wenig. »Das weiß doch jeder, Meister. Die Sterne kleben an der Göttin Nept, deren heiliger Leib sich über den ganzen Himmel … O, verdammter Mist!«
»Du siehst sie ebenfalls, nicht wahr?«
»Oh, oh«, hauchte Gern und sank auf die Knie.
Dil nickte. Er war stolz darauf, fromm zu sein. Er empfand es als großen Trost, daß irgendwo dort draußen Götter existierten. Allerdings beunruhigte es ihn, daß sich die Distanz zu ihnen erheblich verkürzt hatte.
Am Firmament erstreckte sich der bläuliche Leib einer Frau; er glänzte matt im blassen Schein der Sterne.
Eine enorme Frau, mit interstellaren Maßen. Der Schatten zwischen ihren galaktischen Brüsten: ein dunkler Nebel. Die Bauchwölbung: eine ausgedehnte Region mit glühendem Gas. Und der Nabel: das kochende Plasmazentrum, in dem neue Sterne geboren wurden. Nept stützte den Himmel nicht. Sie war der Himmel.
Ihr gewaltiges trauriges Gesicht schwebte umgekehrt über dem drehwärtigen Horizont und starrte Dil an. Und Dil erfuhr in der eigenen Seele, wie heftig der Glauben erschüttert werden kann, wenn er plötzlich konkrete Gestalt annimmt. Im Gegensatz zur Volksweisheit ist Sehen keineswegs mit Glauben
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