Qiu Xiaolong
gebraucht, doch Chen fand den Schalter nicht. Schließlich tastete er sich zur Wohnung vor und klopfte an die Tür. Sie wurde so weit geöffnet, wie es die Türkette erlaubte. Eine weißhaarige Frau mit Goldrandbrille lugte zum Spalt heraus.
Er sagte ihr, wer er sei, und streckte ihr seinen Ausweis entgegen. Sie nahm ihn und musterte ihn sehr sorgfältig, bevor sie ihn eintreten ließ. Sie war Anfang Sechzig und trug eine hellbeige, hochgeschlossene Bluse, einen weiten Rock, Strümpfe und Lederslipper. In der Hand hielt sie ein fremdsprachiges Buch.
In dem Raum standen nicht sehr viele Möbel, doch Chen war beeindruckt von den hohen Bücherregalen an den ansonsten kahlen Wänden.
»Was kann ich für Sie tun, Genosse Oberinspektor?«
»Ich suche Xie Rong.«
»Sie ist nicht da.«
»Wann wird sie denn wieder dasein?«
»Das weiß ich nicht. Sie ist nach Guangzhou gefahren.«
»Macht sie einen Ausflug dorthin?«
»Nein, sie will dort arbeiten.«
»Ach ja, was denn?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie sind doch ihre Mutter, oder?«
»Ja, das bin ich.«
»Dann müssen Sie doch wissen, wo in Guangzhou sie sich aufhält.«
»Was wollen Sie denn von ihr?«
»Ich möchte ihr ein paar Fragen stellen. Es geht um einen Mordfall.«
»Was? Was hat sie denn mit einem Mord zu tun?«
»Keine Angst, ich brauchte sie nur als Zeugin, aber es wäre sehr wichtig für uns.«
»Tut mir leid, aber ich habe keine Adresse von ihr«, sagte sie. »Sie hat mir zwar gleich nach ihrer Ankunft einen kurzen Brief geschrieben mit der Adresse des Hotels, in dem sie abgestiegen war, doch sie meinte, sie würde nicht lange dort bleiben und mir dann ihre neue Adresse mitteilen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört.«
»Und Sie wissen nicht, was ihre Tochter dort macht?«
»Traurig, aber wahr.« Sie schüttelte den Kopf. »Und sie ist meine einzige Tochter.«
»Das tut mir leid.«
»Das braucht Ihnen nicht leid zu tun, Genosse Oberinspektor«, sagte sie. »So ist es eben heutzutage. – Alles fällt auseinander, die Mitte hält nicht mehr.«
»Ja, das stimmt wohl«, sagte er. Er wunderte sich über dieses Zitat. »Von einem bestimmten Blickwinkel aus gesehen stimmt das. Doch das heißt nicht, daß nun die reine Anarchie ausbricht. Es handelt sich doch nur um eine Übergangszeit.«
»Historisch betrachtet, währen Übergangszeiten nur kurz«, sagte sie, nun ihrerseits überrascht, doch zum erstenmal etwas lebhafter. »Doch existentiell betrachtet und für den einzelnen, sind sie nicht ganz so kurz.«
»Ja, Sie haben recht. Um so genauer wollen unsere Entscheidungen überlegt sein«, sagte er. »Wo arbeiten Sie denn?«
»An der Fudan-Universität im Institut für Vergleichende Literaturwissenschaften«, sagte sie. »Aber das Institut ist mehr oder weniger aufgelöst und ich bin im Ruhestand. Bei der heutigen Marktlage will niemand mehr dieses Fach studieren.«
»Dann sind Sie also Professor Xie Kun?«
»Ja, Professor Xie Kun im Ruhestand.«
»Oh, es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen! Ich habe Die modernistische Muse gelesen.«
»Tatsächlich?« sagte sie. »Von einem hochrangigen Polizeibeamten hätte ich das nicht erwartet.«
»O doch, ich habe das Buch sogar mehrmals gelesen.«
»Dann hoffe ich, daß Sie es nicht gleich bei seinem Erscheinen gekauft haben. Neulich bin ich zufällig darüber gestolpert, es lag auf einer kaputten Rikscha und sollte für fünfundzwanzig Fen verschleudert werden.«
»Na ja, man kann nie wissen. Grünes, grünes Gras, das sich überall ausbreitet«, sagte er und freute sich, eine weitere scharfsinnige Anspielung gemacht zu haben, der sie entnehmen konnte, daß sie überall Leser und Studenten hatte, die ihr Werk schätzten.
»Nicht überall«, sagte sie. »Nicht einmal in meinem Heim. Xie Rong zum Beispiel hat es nie gelesen.«
»Wie kommt das?«
»Früher habe ich immer gehofft, daß auch sie einmal Literatur studieren würde. Aber nach ihrem Schulabschluß begann sie, im Hotel Shanghai Sheldon zu arbeiten. Von Anfang an verdiente sie dort das Dreifache meines Gehalts, ganz zu schweigen von den Kosmetikartikeln und dem Trinkgeld, die sie nebenbei bekam.«
»Das tut mir leid, Professor Xie. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.« Er seufzte. »Aber wenn es der Wirtschaft bessergeht, ändern die Menschen vielleicht auch wieder ihre Einstellung zur Literatur. Das sollten wir zumindest hoffen.«
Er beschloß, ihr nichts von seiner eigenen literarischen Tätigkeit zu
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