Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
…
Vierundvierzig
Die Fensterscheibe trotzte souverän
dem Bombardement der Regentropfen, die dicken Tränen gleich an ihr herunterrannen.
Innen war die Scheibe beschlagen. In unregelmäßigen Abständen wischte er mit dem
Handrücken ein Stück frei, sodass er hinaus auf den Canal Grande blicken konnte.
Hier, in unmittelbarer Nähe des Rialto-Marktes, saß der Mann, den man Signor Smith
nannte, bei einem Espresso und einem Grappa. Die Züge seines Raubvogelgesichts waren
heute etwas weicher als sonst, und seine Habichtaugen waren von einer ungewohnten
Melancholie verschleiert. Er nippte am Grappa, genoss die Wärme des Schnapses in
seinem Magen und orderte ein zweites Glas. I’ve got the blues, man. Er blickte auf
den Canal Grande hinaus und sah vor seinem geistigen Auge in den grauen Fluten die
nackten Körper der drei von ihm getöteten Knaben treiben. Sollte er auch Marco liquidieren?
Der Gedanke gefiel ihm nicht. No way. Der kleine Bastard hatte ihn tatsächlich zu
erpressen versucht. Trotzdem lächelte er und erinnerte sich an seine eigene Kindheit.
Er wusste genau, dass er genauso wie Marco gehandelt hätte. Das Einzige, was auf
dieser Welt zählte, war Geld. Diese Lektion hatte er selbst schon verdammt früh
gelernt. Und Marco war genau so. Fuck! Der kleine Spinner wollte tatsächlich 10.000
Euro von ihm. Dafür, dass er das Maul hielt und nicht zur Polizei ging und ihr erzählte,
dass es da einen Signor Smith gäbe, der kleine Knaben nackt in Gips abgoss. This
fuckin’ detective Rhineri, Rommeri or whatever … Das Täterprofil, das dieser Cop
veröffentlicht hatte, passte verdammt gut auf ihn. Er schlug nochmals die Zeitung
auf, um es durchzulesen. Fuck! Wie wenn ihm dieser Ronnery in den Schädel geschaut
hätte. Einzig die Annahme, dass er ein Lusttäter sei, war falsch. Der Perverse,
der die ganze Sauerei in Auftrag gegeben hatte, saß irgendwo im Hintergrund. That’s
not me! Scheiß auf Knaben! Mit Vergnügen dachte er an die zahlreichen luxuriösen
Puffs in Europa, in denen junge Mädchen mit biegsamen Körpern die betuchte Kundschaft
verwöhnten. Frischfleisch aus dem Osten. Bulgarien, Rumänien, Moldawien … That’s
the real stuff! Aber nackte Knaben? Disgusting! Vielleicht hatte sein eigenes Unbehagen,
als er Marco beim Eingipsen an den kleinen Schwanz und die winzigen Eier gefasst
hatte, diesen dazu animiert, einen Erpressungsversuch zu starten? Nein, bei dieser
Geschichte war er ganz und gar nicht cool geblieben. Es war ihm peinlich gewesen.
Andererseits wollte er nicht noch einen Knaben entführen. Jede Entführung war ein
Risiko. Und es galt, Risiken zu minimieren. Deshalb hatte er Marco das Angebot gemacht.
Er hatte gehofft, so den Job ohne Troubles abschließen zu können. Ohne, dass er
eine vierte Leiche produzieren musste. Nun saß Marco unten in dem Kellerloch, wo
er auch die anderen Knaben gefangen gehalten hatte, und er selbst saß hier in der
Bar. Eigentlich sollte er an Marcos Statue weiterarbeiten, obwohl er dazu absolut
keine Lust hatte. Die Polizei kam ihm allmählich gefährlich nahe. Er musste schleunigst
den Job abschließen. Es half alles nichts, er musste weg von hier. Je früher, desto
besser. Seufzend faltete er die Zeitung zusammen, stand auf, schlüpfte in seine
Barbour Jacke, zahlte und ging. Draußen streifte er die Kapuze über den Schädel
und hörte, wie die Regentropfen draufprasselten.
Er ging
durch kleine Gassen und Durchgänge. Als er bei Cecchettis Haus um die Ecke bog,
stoppte er abrupt. Vor dem Rahmenmacherladen stand die alte Umberti, in eine durchsichtige
Regenpelerine mit spitzer Kapuze gehüllt. Wie besessen redete sie auf einen Fremden
ein. Ein schlanker, schlaksiger Typ in einer sportlichen, schwarzen Kapuzenjacke.
Geduldig hörte der Kerl ihr zu. Smith verharrte hinter der Hausmauer und wagte hin
und wieder, kurz ums Eck zu schauen. Der Typ verabschiedete sich von der Umberti
und kam auf ihn zu. Für den Bruchteil einer Sekunde kreuzten sich ihre Blicke. Smith
sah ein hartes Gesicht, in dem wache Augen alles registrierten. Er drehte sich weg
und überquerte die Straße, die zu Cechettis Haus führte. Nach zehn Metern gab es
die Auslage eines Immobilienmaklers. Dort blieb er stehen, tat so, als ob er die
Immobilienangebote studieren würde. Zufrieden registrierte er, dass der Fremde in
die andere Richtung gegangen war. Er kehrte auf dem Absatz um und stieß an der Ecke
mit Signora Umberti zusammen. Sie quietschte vor Entzücken, als sie ihn
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