Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
mitzubringen.
Dreiundvierzig
Der Sturm peitschte den Regen an
das Fenster. Die Äste des einsamen Baumes, der vor dem Fenster stand, kratzten an
der Hausmauer und am Fensterstock. Dabei entstanden hässlich krächzend-schabende
Laute, die Marco aus dem Schlaf rissen. Sie erinnerten ihn an das ebenfalls hässliche
Geräusch, das die Schere verursacht hatte, mit der Signor Smith den erstarrten Gipsabdruck
an seinem Körper entzweigeschnitten hatte. Plötzlich war Marco hellwach. Er klammerte
sich an das Leintuch und die Decke, unter der er lag, und biss sich auf die Lippen.
Mit Grauen erinnert er sich, wie Signor Smith’ kraftvolle Hand den kalten, glitschigen
Gips auf seinen Penis und Hoden gedrückt hatte. Und kurz danach war sein Arsch dran.
Marco schüttelte es vor Ekel. Tränen traten in seine Augen, und er versuchte dieses
widerliche Gefühl, das der glitschige Gips auf den intimsten Regionen seines nackten
Unterleibs verursacht hatte, zu verdrängen. Er wälzte sich zuerst nach links, dann
nach rechts. Schließlich drehte er sich auf den Bauch. Vor Zorn, dass er das mit
sich geschehen hatte lassen, biss er in das Kissen. Und dann weinte er so lange,
bis es ganz nass war. Schließlich sprang er auf. Seine heißen Fußsohlen berührten
den kalten Terrazzoboden. Er lief in die Küche und nahm die Flasche mit Mineralwasser
aus dem Kühlschrank. Gierig trank er. Eiskalt rann das Wasser die Kehle hinunter
in den Magen. Das beruhigte, genauso wie der kalte Boden. Marco stellte die Mineralwasserflasche
in den Kühlschrank und ging langsam in sein Zimmer zurück. Er lehnte sich an den
Fensterrahmen und sah hinaus in das stürmische Treiben der Regennacht. Als er im
Stehen kurz einnickte, wusste er, dass er sich nun hinlegen und weiter schlafen
konnte. Er drehte das nasse Kissen um, kuschelte sich in die trockene Rückseite
und schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen weckte ihn wie
immer das lautstark aufgedrehte Radio. Seine Mutter liebte es, in der Früh laut
Radio zu hören. Erstens verstand sie so auch die Nachrichten, wenn sie Zähne putzte,
wenn die Espressomaschine zischte oder wenn sie schnell noch Schmutzwäsche in die
Waschmaschine stopfte. Außerdem sang sie bei Songs, die sie mochte, lautstark mit.
Marco stand verschlafen auf, verfluchte diese grauenvolle Nacht und tapste in die
Küche. Dort gab er Kakaopulver in eine Tasse und fügte dann mit der Milchschaumeinrichtung
der Espressomaschine heiße, geschäumte Milch hinzu. Die Espressomaschine war ein
Segen! Mit Schaudern erinnerte er sich an frühere Jahre, als sie diese Maschine
noch nicht hatten. Da wärmte ihm seine Mutter in der Früh immer die Milch am Gasherd.
Was zur Folge hatte, dass sie oft überkochte und es grauenhaft stank. Marco nippte
an seinem heißen Kakao und spitzte die Ohren. Konzentriert hörte er dem Nachrichtensprecher
zu. Der berichtete von einer Pressekonferenz des Commissario Ranieri. Dabei erwähnte
dieser die Gipsspuren an den Körpern der ermordeten Knaben. Marco bekam Gänsehaut.
Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Der erste Knabe war ermordet
aufgefunden worden, kurze Zeit, nachdem Signor Smith in Signor Cecchettis Werkstatt
eingezogen war. Wo war übrigens Signor Cecchetti geblieben? War er wirklich zu seiner
Tochter nach Amerika gefahren? Oder hatten ihn Signor Smith’ Schraubstockhände ins
Jenseits befördert? Vor Aufregung zitternd saß er da, schlürfte Kakao und überlegte.
Seine Mutter störte ihn wie immer. Sie ermahnte ihn, sich zu waschen, anzuziehen
und in die Schule zu gehen:
»Non
hai tempo per sognare! [45] «
Widerwillig
stand er auf und ging ins Badezimmer. Das alles war ganz bestimmt kein Zufall. Und
die Sache mit dem Gips passte auch. Aber warum hatte Signor Smith ihn nicht umgebracht?
Weil sie einmal Freunde gewesen waren? Wenn Signor Smith ein echter Freund wäre,
hätte er mir das nie angetan, dachte Marco. Vielleicht war das von Anfang an seine
Absicht? Er wusste, dass ich Geld brauchte. Deshalb hatte er mich mit Geld geködert.
Außerdem dachte er sicher, dass ich niemandem davon erzählen würde, weil ich mich
schämte. Marcos Hände, die gerade Zahnpasta auf die Zahnbürste drückten, begannen
neuerlich zu zittern. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Dann begann er
ruhig und konzentriert die Zähne zu putzen. In seinem Kopf formte sich allmählich
eine Idee. Eine kühne Idee, die zu einem Plan reifte. Ein Plan, wie er sehr viel
Geld bekommen würde
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