Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
sah. Endlich
hatte sie ihn erreicht! Nun musste er sofort mitkommen zu ihrer Freundin, die diesen
fantastischen Spiegel mit dem wertvollen, aber leider etwas desolaten Rahmen hatte.
Er sah sich um. Niemand außer einer asiatischen Touristengruppe war auf der Straße.
Er bat Signora Umberti, kurz in die Rahmenhandlung mitzukommen, da er einen Maßstab
mitnehmen wollte. Bereitwillig folgte sie ihm ins Geschäft und dann nach rückwärts
in die Vergolderwerkstatt. Er schloss die Werkstatttür hinter ihr und machte Licht. Signora Umberti erstarrte. Vor ihr kniete auf dem Arbeitstisch
die Statue von Marco. Die Signora stammelte:
»Ma
questo è … questo è Marco! Marco Canella … [46] «
Weiter kam
sie nicht, denn eine fürchterliche Ohrfeige erschütterte ihren Kopf, sodass sie
fast das Gleichgewicht verlor. Als Nächstes schlug er ihr mit der Faust mitten ins
Gesicht. Der Schlag ließ sie in die hinterste Ecke der Werkstatt taumeln. Er trat
auf sie zu und schlug ihren Schädel gegen die Wand. Die alte Frau sackte in sich
zusammen. Nun öffnete er die Tür zur Diele, und ein bestialischer Geruch schlug
ihm entgegen. Ein böses Grinsen erschien auf seinem Gesicht. An ihren grauen, dauergewellten
Haaren schleifte er die Umberti durch die Diele zu dem folgenden Raum, in dem ein
riesiger alter Kasten stand. Er öffnete ihn und erschrak. Fiepend sprangen mehrere
Ratten heraus und verschwanden eiligst. Mit Abscheu bemerkte er, dass sie Cecchettis
verwesende Leiche an den Händen und im Gesicht angeknabbert hatten. Signora Umberti,
die gerade wieder zu Bewusstsein kam, sah Cecchetti, dem die Ratten die Nase weggefressen
hatten, ins verweste Antlitz und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Grob
stieß er sie in den Kasten hinein. Mit Zerren und Treten verstaute er den fetten,
sich wehrenden Frauenkörper neben Cecchetti im Inneren des Kastens. Dann holte er
aus und schlug ihr mit der Faust nochmals ins Gesicht. Knochen krachten, Blut spritzte.
Stille trat ein. Trotz des unbeschreiblichen Gestanks atmete er erleichtert durch.
Er ging in die Werkstatt, wo er nach kurzem Suchen einen dünnen Draht fand. Außerdem
griff er zu dem Raumspray, den er unlängst erworben hatte. Er ging zurück in den
hinteren Raum und fesselte mit dem Draht die Umberti an Händen und Füßen. Er knallte
die massive Holztür zu und versperrte mit einem klobigen Schlüssel das alte knarrende
Schloss der Kastentür. Kurz überlegte er, ob er den Schlüssel abziehen sollte, ließ
ihn aber schulterzuckend stecken. Heftig um sich sprayend verließ er den Raum, schloss
die Tür zur Diele und sprayte solange weiter, bis die Dose leer war. Dann ging er
in die Küche in den ersten Stock und setzte Wasser am Herd auf. Als die Teekanne
zu pfeifen anfing, goss er starken, schwarzen Tee auf. Da er ganz heftiges Verlangen
nach etwas Süßem hatte, lief er nochmals hinaus in den Regen. Sein Weg führte ihn
auf den kleinen Platz bei der nahen Kirche. Hier gab es eine Pasticceria, die wunderbare
Bäckereien hatte. Er kaufte sich ein Kilo davon und aß schon beim Heimgehen gierig.
In der Werkstatt trank er dann den heißen Tee, aß Kekse und lehnte sich entspannt
auf einem Stuhl zurück. Zufrieden betrachtete er Marcos Statue. Da sie bereits grundiert
war, musste er sie nur noch vergolden. Das wollte er heute Nacht und morgen untertags
zu Ende bringen. Und dann nichts wie weg von hier.
Fünfundvierzig
Lupino hasste dieses Wetter. Unter
seiner schwarzen, sportlichen Kapuzenjacke stapfte er durch den Regen. Hinter ihm
trottete eine Handvoll norddeutscher Touristen, die sich durch dieses Wetter nicht
abschrecken ließen und einen Spaziergang rund um San Marco gebucht hatten. Lupino
spulte seine Führung routiniert ab, war jedoch mit dem Kopf nicht bei der Sache.
Ihm ging noch immer die alte Dame durch den Kopf, die ihm gestern vor dem Rahmenmachergeschäft
im Dorsoduro über den Weg gelaufen war. Fürchterlich hatte sie sich aufgeregt, dass
der Rahmenmacher in letzter Zeit dauernd geschlossen hatte. Dabei war das so ein
begabter Mann. Handwerklich viel geschickter als der eigentliche Besitzer des Ladens,
ein gewisser Cecchetti. So schön hatte dieser Signor Smith, der ja eigentlich nur
Cecchettis Vertretung war, ihren Tintoretto gerahmt. Der Mann hatte goldene Hände.
Nur war er nie da. Sie hatte ihre Freundin, die Contessa, schon wiederholt vertrösten
müssen. Dabei müsste der Rahmen des riesigen barocken Spiegels, der im Vestibül
des Palazzos ihrer
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