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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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zerstören. Wenn ich diese einfache und offensichtliche Wahrheit nicht akzeptieren konnte, hatte ich kein Recht, irgend jemandem die Welt erklären zu wollen. Die Erlösung konnte mir gestohlen bleiben. Ich war durch die Ignoranzkulte in Versuchung geführt worden, und vielleicht hatte ich inzwischen ein wenig verstanden, wodurch sie angetrieben wurden – doch was hatten sie mir letztlich zu bieten? Die Entfremdung von der Wirklichkeit. Das Universum als namenloser Schrecken, den man unablässig verleugnen mußte, der in saccharinsüße künstliche Mysterien gehüllt wurde, dessen Wahrheiten durch Zweideutigkeiten und Märchen verschleiert wurden.
    Darauf konnte ich scheißen. Ich hatte genug von zuwenig Aufrichtigkeit – nicht von zuviel. Es gab zu viele Mythen über die großen Worte – nicht zu wenige. Ich wäre besser auf die Torturen vorbereitet gewesen, wenn ich mein bisheriges Leben im Angesicht der Wahrheit verbracht hätte, statt mich den verführerischsten Leugnungen hinzugeben.
    Ich sah mir eine Darstellung des schlimmstmöglichen Falls an. »Wenn es dem therapieresistenten Mexico-City-Typ von Vibrio cholerae gelingt, die Blut-Gehirn-Barriere zu überwinden, kann das Fieber durch Unterdrückung des Immunsystems gesenkt werden, aber die entstehenden Toxine führen höchstwahrscheinlich zu irreversiblen Schäden.«
    Mutierte choleragene Moleküle fusionierten mit Nervenmembranen. Die Zellen zerplatzten wie angestochene Luftballons.
    Ich fürchtete den Tod genauso wie zuvor, aber die Wahrheit hatte ihren Stachel verloren. Wenn die UT mich packte und nicht mehr losließ, hatte sich zumindest gezeigt, daß ich festen Boden unter den Füßen hatte – das endgültige Gesetz, das einfachste Muster, das die Welt in all ihrer Seltsamkeit zusammenhielt.
    Ich hatte den Boden erreicht. Wenn man auf das Grundgestein der Unterwelt gefallen war, konnte man nicht mehr tiefer stürzen.
    Ich sagte: »Es reicht. Jetzt brauche ich etwas, das mich aufmuntert.«
    »Etwas aus der Beat-Generation?«
    Ich lächelte. »Hervorragend.«
    Sisyphus durchstöberte die Bibliotheken und spielte Aufzeichnungen ab, in denen die Dichter aus ihren eigenen Werken lasen. Ginsberg heulte: »Moloch! Moloch!« Burroughs krächzte: »A Junkie’s Christmas.« Koffer voller abgetrennter Gliedmaßen und die Jagd nach dem vollkommenen Schuß.
    Doch am besten von allen war Kerouac höchstpersönlich, wild und melodisch, bekifft und unschuldig: »What If The Three Stooges Were Real?«
    Nachmittägliches Sonnenlicht fiel schräg in den Raum und streifte mein Gesicht, überbrückte Entfernung, Energie, Maßstäbe und Komplexität. Das war kein Anlaß für Schrecken. Und auch kein Anlaß für Ehrfurcht. Es war einfach nur etwas völlig Gewöhnliches.
    Ich war so bereit wie noch nie zuvor. Dann schloß ich die Augen.
     
    Jemand stieß gegen meine Schulter und sagte zum vierten oder fünften Mal: »Wachen Sie bitte auf!«
    In dieser Angelegenheit blieb mir keine freie Wahl mehr, also öffnete ich die Augen.
    Eine junge Frau stand neben mir. Ich hatte sie noch nie gesehen. Ihre dunkelbraunen Augen blickten ernst. Dunkle Haut, langes schwarzes Haar. Sie sprach mit deutschem Akzent.
    »Trinken Sie das.« Sie hielt ein kleines Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit in der Hand.
    »Ich kann nichts bei mir behalten. Hat man es Ihnen nicht gesagt?«
    »Das hier können Sie trinken.«
    Ich wehrte mich nicht, denn inzwischen war das Erbrechen für mich genauso natürlich wie das Atmen geworden. Ich nahm das Fläschchen entgegen und kippte den Inhalt hinunter. Meine Speiseröhre schnürte sich zusammen, und ich schmeckte Säure am Gaumen – aber mehr geschah nicht.
    Ich hustete. »Warum hat man mir das nicht früher angeboten?«
    »Ich bin eben erst eingetroffen.«
    »Von wo?«
    »Das wollen Sie gar nicht wissen.«
    Ich sah sie blinzelnd an. In meinem Kopf wurde es etwas klarer. »Eingetroffen? Was für ein Medikament könnte hier nicht vorrätig sein?«
    »Was glauben Sie?«
    Die Haut auf meinem Rücken wurde eiskalt. »Träume ich? Oder bin ich schon tot?«
    »Akili hat eine Blutprobe von Ihnen nach… in ein bestimmtes Land geschmuggelt, wo es von Freunden analysiert wurde. Sie haben gerade einen Zaubertrank gegen jedes Stadium der Waffe geschluckt. In wenigen Stunden werden Sie wieder auf den Beinen sein.«
    Mein Kopf schien platzen zu wollen. Die Waffe. Meine schlimmsten Befürchtungen hatten sich soeben in nur einem einzigen Satz bestätigt und wieder

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