Qual
die Tiefe der Erde beförderte, wo sie im Laufe von Äonen zermahlen und metamorphosiert wurden, war auf Stateless genauso überkommen wie der Bessemer-Prozeß für die Stahlgewinnung oder das Haber-Bosch-Verfahren zur Ammoniaksynthese.
Der Laster bewegte sich zwischen zwei breiten Bächen aus zerkleinerten Korallen. In der Ferne wanden und verbanden sich weitere Ströme, während zwischen ihnen die Finger aus Riff-Fels dünner wurden und verschwanden, bis das Land rundherum zu mehr als der Hälfte aus Matsch bestand. Die teilweise verdauten Korallen wurden gröber, die Oberfläche der Kanäle unebener, und da und dort glitzerten Teiche aus stehendem Wasser. Ich bemerkte gelegentliche Farbstreifen, die im ausgebleichten Kalkstein überlebt hatten – nicht die gedämpften Mineralspuren des städtischen Mauerwerks, sondern kräftige Rot-, Orange-, Grün- und Blautöne. Der Laster hatte bereits von Anfang an nach Meer gestunken, doch der Wind, der den Geruch vertrieben hatte, stand ihm schon bald in nichts mehr nach.
Innerhalb von Minuten hatte sich die Landschaft völlig verändert. Ausgedehnte lebende Korallenbänke, die vom Meerwasser überflutet waren, umgaben schmale, gewundene Dämme. Die Riffe waren farbenprächtig, da die Algensymbionten, die innerhalb der verschiedenen Spezies korallenbauender Polypen lebten, mit unterschiedlichsten photosynthetisierenden Pigmenten ausgestattet waren. Und selbst aus der Entfernung konnte ich wilde morphologische Variationen zwischen den mineralisierten Skeletten der Kolonien erkennen. Neben kieselsteinförmigen Anhäufungen gab es Dickichte aus verzweigten Röhren oder zarte farnähnliche Strukturen – zweifellos eine sinnvolle Vielfalt, die der ökologischen Widerstandsfähigkeit diente, aber sicher auch eine bewußt opulente Demonstration der biotechnischen Möglichkeiten war.
Der Laster hielt an, und alle stiegen herunter – bis auf die zwei Leute, die am Bahnhof Kisten in eine Fracht-Straßenbahn umgeladen hatten. Ich zögerte, bevor ich der Menge folgte. Eigentlich hatte ich mein Ziel noch nicht erreicht, aber ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen.
Der Lastwagen fuhr weiter. Die meisten anderen Passagiere hatten Masken, Schnorchel und Flossen dabei. Ich war mir nicht sicher, ob es Touristen oder Einheimische waren, aber alle bewegten sich zielstrebig zu den Riffen. Ich ging ein Stück mit und sah eine Weile zu, wie sie vorsichtig auf die Korallenbänke hinauskletterten und nach tieferem Wasser suchten. Dann machte ich kehrt und spazierte in nördlicher Richtung die Küste entlang, fort von den Tauchern.
Zum ersten Mal sah ich ein Stück des offenen Meeres, das immer noch mehrere hundert Meter entfernt war. Im Hafen lag ein Dutzend kleiner Boote vor Anker – in einer der sechs Achselhöhlen des Riesenseesterns. Ich erinnerte mich an den fragilen und exotischen Anblick aus der Luft. Was war es eigentlich, worauf ich stand? Eine künstliche Insel? Eine im Meer treibende Maschine. Ein biotechnisches Seeungeheuer? Die Unterscheidungen verschwammen zur Bedeutungslosigkeit.
Am Hafen stieß ich wieder auf den Laster. Die zwei Arbeiter, die ihn beluden, blickten sich neugierig zu mir um, fragten aber nicht, was ich hier wollte. Meine Untätigkeit machte mich zu einem Sonderling, da jeder andere hier Kisten schleppte oder Nahrung aus dem Meer sortierte. Es gab auch Maschinen, aber die meisten waren keine HighTech-Produkte. Elektrische Gabelstapler, aber keine riesigen Kräne, keine langen Förderbänder, die für den Warentransport sorgten. Vermutlich war der Riff-Fels zu weich, um schwere Geräte tragen zu können. Im Hafen hätte man eine schwimmende Plattform errichten können, die das Gewicht eines Krans trug, aber offensichtlich war niemand der Ansicht, daß sich eine solche Investition lohnte. Oder die Farmer zogen es einfach nur vor, auf diese Weise zu arbeiten.
Von Kuwale war immer noch nichts zu sehen. Ich entfernte mich von den Verladeanlagen und ging näher ans Wasser heran. Biochemische Signalstoffe aus den Felsen hielten das Hafenbecken frei von Korallen, und das Plankton transportierte die Sedimente zu den Riffen, wo es gebraucht wurde. Das Wasser war von einem tiefen Blaugrün und sah bodenlos aus. Im Schaum der sanft schwappenden Wellen erkannte ich ein unnatürliches Sprudeln. Überall stiegen Blasen auf. Die Gase, die aus dem Fels gepreßt wurden und die ich – aus zweiter Hand – an der Unterseite von Stateless gesehen hatte, kamen hier an die
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