Qual
kein Höllenfeuer, sondern nur Trost und Freude. Keine Tiraden über Sünde und Verdammnis, sondern nur bescheidene Vorschläge, freundlich, wohltätig und liebevoll zu sein.«
»Klingt wunderbar«, sagte ich. »Was ist geschehen? Hat Gott einen Treibhaus-Sturm geschickt, um all dieser blasphemischen Freude und Bescheidenheit ein Ende zu setzen?«
»Mit der Kirche ist gar nichts geschehen. Sie steht immer noch.«
»Aber Sie gehören nicht mehr zur Gemeinde. Warum?«
»Ich habe die Schriften zu wörtlich genommen. Sie besagten, man sollte alle kindlichen Dinge hinter sich lassen. Das habe ich getan.«
»Jetzt reden Sie sich mit Witzen heraus.«
Er zögerte. »Wenn Sie wirklich die genaue Fluchtroute erfahren wollen… es war nur ein einziges Gleichnis, mit dem alles begann. Kennen Sie die Geschichte vom Scherflein der Witwe?«
»Ja.«
»Als Schuljunge ging sie mir immer wieder durch den Kopf. Die kleine Gabe der armen Witwe war mehr wert als die großzügige des reichen Mannes. Gut. Ich hatte die Botschaft verstanden. Ich erkannte die Würde, die sie jedem Akt der Wohltätigkeit verlieh. Aber ich sah noch viel mehr Dinge, die codiert in diesem Gleichnis steckten, und diese Dinge gingen mir einfach nicht aus dem Kopf.
Ich sah eine Religion, für die es wichtiger war, sich gut zu fühlen, als Gutes zu tun. Eine Religion, für die die Freude des Gebens – oder der Schmerz – höheren Wert als jede greifbare Wirkung besaß. Eine Religion, die… die Rettung der eigenen Seele durch gute Taten weit höher schätzte als die weltlichen Konsequenzen.
Vielleicht interpretierte ich viel zuviel in diese eine Geschichte hinein. Aber wenn es nicht diese Geschichte gewesen wäre, hätte es mit etwas anderem begonnen. Meine Religion war wunderschön – aber ich verlangte nach mehr. Ich brauchte mehr als nur das. Sie mußte auch wahr sein. Und das war sie nicht.«
Er lächelte traurig und hob die Hände, um sie wieder sinken zu lassen. Ich glaubte, den Schmerz des Verlustes in seinen Augen zu sehen. Ich glaubte, ihn zu verstehen.
»Mit einem Glauben aufzuwachsen ist, wie mit Krücken aufzuwachsen«, sagte er.
»Doch dann warfen Sie Ihre Krücken fort und konnten gehen?«
»Nein. Ich warf meine Krücken fort und fiel prompt auf die Nase. Meine ganze Kraft war in den Krücken gewesen, und ich selbst besaß keine. Ich war neunzehn, als für mich endlich alles auseinanderfiel. Das Ende der Jugend ist das beste Alter für eine existentielle Krise, meinen Sie nicht auch? Sie haben Ihre Jugend reichlich spät überwunden.«
Mein Gesicht glühte vor Scham und Erniedrigung. Michael beugte sich vor und berührte meine Schulter. »Ich habe eine lange Schicht hinter mir«, sagte er, »mein Urteilsvermögen läßt nach. Ich wollte nicht grausam sein.« Er lachte. »Hören Sie mich an, wie ich den Quatsch wiedergebe, ein jegliches hätte seine Zeit! Ich rede wie die Edeniten, wenn sie den Duce anklingen lassen: Gebt acht, daß die emotionalen Züge pünktlich abfahren!« Er lehnte sich zurück und strich sich mit einer Hand durchs Haar. »Aber ich war nun einmal neunzehn, daran gibt es nichts zu rütteln. Und ich hatte Gott verloren. Was soll ich sagen? Ich habe Sartre gelesen, Camus, Nietzsche…«
Ich zuckte zusammen. Michael blickte mich verblüfft an. »Haben Sie ein Problem mit Fritz?«
Der Krampf drückte härter zu. Ich antwortete mit zusammengebissenen Zähnen: »Ganz und gar nicht. Die besten europäischen Philosophen wurden entweder verrückt oder begingen Selbstmord.«
»Genau. Und ich habe sie alle gelesen.«
»Und?«
Er schüttelte den Kopf und lächelte beschämt. »Etwa ein Jahr lang… habe ich wirklich daran geglaubt: Hier stehe ich und starre gemeinsam mit Nietzsche in den Abgrund. Hier stehe ich, am Rande des Wahnsinns, der Entropie, der Bedeutungslosigkeit. Die unaussprechliche, gottlose, rationale Verdammnis der Aufklärung! Ein falscher Schritt, und ich werde in die Tiefe stürzen.«
Er zögerte erneut. Ich beobachtete ihn mit plötzlichem Mißtrauen. Hatte er sich die ganze Geschichte vielleicht nur ausgedacht? Ein wenig Therapie, die auf den ganzheitlichen Patienten Rücksicht nahm? Aber selbst wenn er es ehrlich meinte… so hatten wir völlig unterschiedliche Leben gelebt. Was sollten mir seine Erfahrungen nützen?
Trotzdem hörte ich ihm zu.
»Aber ich stürzte nicht ab. Weil es gar keine Tiefe gibt. Es gibt keinen gähnenden Abgrund, der darauf wartet, uns zu verschlingen, wenn wir erfahren,
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