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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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und von der Tourismus-Industrie unter die Fittiche nehmen lassen.
    Ich hatte jedoch keine Zeit gehabt, die stillen Grabmäler von Bishopsgate oder Wapping zu besuchen. Ich war direkt nach Manchester weitergeflogen – das im Vergleich zu London eine florierende Stadt schien. Laut historischer Zusammenfassung von Sisyphus war die Stadt in den Zwanzigern durch das Gleichgewicht zwischen Grundstückspreisen und Kosten der Infrastruktur begünstigt worden, worauf Tausende von informationsverarbeitenden Firmen – mit hohem Einsatz von Telearbeit und gleichzeitigem Bedarf an kleinen zentralen Büroräumen – von Süden hergezogen waren. Diese industrielle Wiederbelebung hatte sich auch auf den akademischen Sektor ausgewirkt, so daß die Universität von Manchester nun anerkanntermaßen die weltweite Führungsrolle auf mindestens einem Dutzend Fachgebieten innehatte, einschließlich Neurolinguistik, Neo-Protein-Chemie und fortgeschrittenem medizinischem Imaging.
    Ich sah die Aufnahmen durch, die ich im Stadtzentrum angefertigt hatte – auf denen es vor Fußgängern, Zwei- und Vierradfahrern wimmelte – und wählte ein paar kurze Einstellungen als Aufhänger aus. Ich hatte selbst ein Zweirad gemietet, an einem der automatischen Depots draußen in der Victoria Station. Zehn Euro, und es gehörte einen Tag lang mir. Es war ein neueres Whirlwind-Modell, eine wunderbare Maschine, leicht, elegant und nahezu unverwüstlich – hergestellt im nahegelegenen Sheffield. Man konnte auf Wunsch ein Trittfahrrad simulieren lassen (eine triviale Option, die die masochistischen Puristen glücklich machte), aber es existierte keine mechanische Verbindung zwischen den Pedalen und den Rädern. Im Prinzip war es ein mit Menschenkraft betriebenes elektrisches Motorrad. Supraleitende Spulen im Chassis dienten als kurzfristige Energiespeicher, die die Beanspruchung des Fahrers reduzierten, indem sie Energie aus den Bremsen zurückgewannen. Vierzig Stundenkilometer strengten nicht mehr an als ein zügiger Spaziergang, und Hügel spielten fast gar keine Rolle, da sich die Auf- und Abfahrt hinsichtlich des Energieverlusts und -gewinns nahezu ausglichen. Es mußte etwa zweitausend Euro wert sein – doch das Navigationssystem, die Scheinwerfer und die Schlösser waren so gut gesichert, daß ich eine kleine Fabrik benötigt hätte – und einen Doktor in Kryptologie –, um es stehlen zu können.
    Die Straßenbahnen führten zu fast jedem Punkt der Stadt, doch das gleiche galt für die überdachten Radfahrwege, so daß ich mit dem Whirlwind zu meiner nachmittäglichen Verabredung gefahren war.
    James Rourke war der Mediensprecher der Interessengruppe Freiwilliger Autisten. Ein dünner, kantiger Mann Anfang Dreißig, der leibhaftig recht unbeholfen wirkte. Kaum Augenkontakt und gedämpfte Körpersprache. Von verbaler Eloquenz, aber ohne jede Telegenität.
    Doch als ich ihn auf dem Konsolenbildschirm sah, erkannte ich, wie sehr ich mich getäuscht hatte. Ned Landers hatte eine blendende Darstellung abgeliefert, die so glatt und bruchlos war, daß kein Raum für Fragen übrigblieb, was im Hintergrund vor sich gehen mochte. Rourke dagegen hatte überhaupt nichts dargestellt – und die Wirkung war gleichzeitig fesselnd und zutiefst beunruhigend. Wenn er unmittelbar nach den eleganten und selbstsicheren Sprechern von Delphic Biosystems (Zähne und Haut von Masarini, Florenz; Aufrichtigkeit von Operant Conditioning) auftrat, war es wie ein Schlag vor den Kopf, der den Zuschauer aus seinem Tagtraum riß.
    Ich mußte ihn irgendwie mäßigen.
    Ich selbst hatte einen hundertprozentig autistischen Vetter – Nathan. Ich hatte ihn nur ein einziges Mal getroffen, als wir beide noch Kinder gewesen waren. Er gehörte zu den wenigen Glücklichen, die keine weiteren angeborenen Gehirnschäden aufwiesen, und zu jener Zeit lebte er noch bei seinen Eltern in Adelaide. Er hatte mir seinen Computer gezeigt und in aller Ausführlichkeit die technischen Eigenschaften heruntergebetet, wobei er sich kaum von anderen technophilen Dreizehnjährigen, die sich für ein neues Spielzeug begeisterten, unterschieden hatte. Doch als er mir dann seine Lieblingsprogramme vorgeführt hatte – geistlähmende Solitär-Kartenspiele, bizarre Gedächtnistrainer und geometrische Rätsel, die auf mich eher wie anstrengende Intelligenztests wirkten als entspannende Freizeitbeschäftigungen – hatte er meine sarkastischen Kommentare überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Ich hatte ihn immer

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